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Kriegsverbrechen verstören Australien
Nach jahrelangem Verzögern wird ein Bericht zu Straftaten von Soldaten in Afghanistan veröffentlicht
In dieser Woche werden in Australien die brutalen Details von 55 Kriegsverbrechen veröffentlicht, die Soldaten der Eliteeinheiten der Australian Defense Forces (ADF) in Afghanistan zwischen 2005 und 2016 begangenen haben sollen. Ob die Regierung den Bericht des Generalinspekteurs der Armee allerdings als redigierte Fassung oder gar nur in zusammengefasster Form der Öffentlichkeit zugänglich machen wird, statt vollständig, wie von Menschenrechtsorganisationen gefordert, ist allerdings noch offen.
Der Bericht, der vier Jahre lang in der Mache war, enthält offenbar so starken Tobak, dass Premierminister Scott Morrison schon in der vergangenen Woche seine Landsleute auf »schockierende« und »verstörende« Inhalte einstimmte. Vorsorglich kündigte der konservative Premierminister die Einsetzung eines Sonderermittlers zur Untersuchung des Vorwurfs des »ernsten und möglicherweise kriminellen Fehlverhaltens« australischer Soldaten an.
Morrison tritt die Flucht nach vorne an, nachdem australische Regierungen lange Zeit Berichte von Whistleblowern über mutmaßliche Kriegsverbrechen unterdrücken wollten. So waren 2017 Reporter des Fernsehsenders ABC nach der Veröffentlichung ihrer »Afghanistan-Akten« genannten investigativen Recherche über die mutmaßlichen Kriegsverbrechen zeitweise Ziel polizeilicher Ermittlungen.
Whistleblower über die Gräueltaten wie die Tötung von Kindern oder die Erschießung von Gefangenen und Zivilisten waren Kameraden der mutmaßlichen Täter. Solche Taten von Angehörigen der Armee eines Landes, das sich gerne als demokratisch und egalitär präsentiert, sind an sich schon widerlich genug. Der Bericht droht aber auch nachhaltig die seit mehr als einhundert Jahren geschürte Propaganda über die ehrfürchtig »Aussie Digger« genannten Soldaten zu zerstören, die als Verkörperung des Konzepts der »egalitären Mateship« - Kameradschaft - als Inbegriff des australischen Volkscharakters wirken.
Der Aussie-Digger-Mythos hat seine Wurzeln im »Australian and New Zealand Army Corps« (ANZAC), das im Ersten Weltkrieg an der Seite der Briten im türkischen Gallipoli kämpfte und schwerste Verluste hinnehmen musste. Seitdem werden Veteranen jedes Jahr am 25. April, dem ANZAC-Tag, mit Paraden, Gebeten und militärischen Zeremonien gefeiert, die am Zweiten Weltkrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Afghanistaneinsätzen beteiligt waren. Außerdem ist die konservativ-nationalistische Veteranenvereinigung Returned and Services League (RSL) mit mehr 170 000 Mitgliedern ein politischer Machtfaktor und über ihre Clubs mit Bars, Restaurants und Automatenspielkasinos überdies fest im sozialen und wirtschaftlichen Gefüge Australiens verankert.
Hinter dem ANZAC-Mythos verbergen sich aber auch Kriegsverbrechen, über die man bisher den Camouflage-Mantel hängte. Laut Historikern ist es ein offenes Geheimnis, dass australische Soldaten 1917/18 in Palästina und Ägypten mit gefangenen arabischen Soldaten kurzen Prozess machten. Auf Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg posieren Aussie Digger wie Großwildjäger stolz neben den Leichen japanischer Soldaten. 2001 warf ein neuseeländischer Major im Interview mit den australischen Sender ABC australischen Soldaten vor, im Vietnamkrieg verwundete Vietcong exekutiert zu haben.
Der Bericht des Generalinspekteurs, die Ergebnisse der Untersuchung des Sonderermittlers und die daraus wahrscheinlich folgenden Anklagen werden Australiens Politik, Justiz, Medien und Gesellschaft auf Jahre hinaus beschäftigen. Brendan Nelson, ehemaliger Chef der Behörde für Kriegsdenkmäler, wirft kritischen Medien vor, »unsere Helden vom Sockel stoßen zu wollen«. Geheimdienst- und Verteidigungsexperten befürchten, die Kriegsverbrechen lieferten der Propaganda der Feinde Australiens wie den Taliban oder dem Islamischen Staat Munition.
Premierminister Morrison warnt vorsorglich vor einer pauschalen Verurteilung aller Soldaten der ADF. Das wäre »grob ungerecht«. Es gehe um den »tiefen Respekt« sowohl gegenüber der Armee als auch gegenüber der »Gerechtigkeit« und darum, »diese beiden Aspekte nach den höchsten Standards zu handhaben«.
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