Rezeptvorschläge gegen den »Hirntod«

Nato-Außenminister versuchten, sich per Videokonferenz an notwendige Reformen heranzutasten

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Erfahrene Nato-Beobachter wissen: Je größer die Probleme im Bündnis, um so positiver die Berichte über Spitzentreffen. Am Dienstag und Mittwoch schalteten sich die Außenminister der 30 Mitgliedsstaaten per Video zusammen, um über Handlungsempfehlungen einer Expertengruppe zu beraten. Sie war im Frühjahr eingesetzt worden, nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dem Bündnis einen »Hirntod« bescheinigt hatte. Auf dem Tisch von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg liegt ein Papier namens »Nato 2030: United for a New Era«. Ob die über 130 Reformvorschläge tatsächlich in eine neue Ära führen, bleibt ungewiss, doch Außenminister Heiko Maas (SPD) und sein französischer Kollege Jean-Yves Le Drian erklärten nun vor jeder Debatte: Unsere Staaten spannen sich voll ein, damit die Nato für gegenwärtige und künftige sicherheitspolitische Herausforderungen gewappnet bleibt.

Es geht mal wieder um nicht weniger als die Zukunft der nordatlantischen Allianz in einer zunehmend fragilen Welt. Seit dem Ende des Kalten Krieges vor 30 Jahren ist die Nato auf der Suche nach einer neuen Identität. Trotz der 2010 verabschiedeten Strategie geriet man in eine politische Krise. Globale Themen, zu denen man einen über militärische Belange hinausgehenden Standpunkt der Nato erwarten muss, gibt es genügend: Klima, Terrorismus, Hunger-, Bildungs- und Gesundheitsnot, Migrationsbewegungen ...

Auch in dieser Woche war dazu nichts Substanzielles zu hören. Und das nicht nur, weil die Situation in Afghanistan eiligst Antworten verlangt. Nach dem mit der Nato nicht abgesprochenen rasanten Abbau der US-Truppen ist das Nato-Versprechen »gemeinsam rein - gemeinsam raus« in höchster Gefahr. Und damit die Soldaten vor Ort.

Generell ist von dem so gepriesenen westlichen Wertebündnis augenscheinlich nicht viel geblieben. Was nicht nur am Diktat des US-Präsidenten Donald Trump liegt, der bestehende Rüstungskontrollverträge ohne Absprache mit den Verbündeten zersprengte. Auch die Türkei bedroht den Zusammenhalt, legt sich mit Frankreich und Griechenland an, hindert deutsche Soldaten an der Umsetzung des UN-Embargos gegen Libyen. Sonderwege beschreitet Polen, auf dem Balkan ist Ruhe weiter nur gemietet, beim Thema Syrien schweigt die Nato.

Bereits vor der zweitägigen Videoschalte wurde gemunkelt, dass große Mitgliedsstaaten das Prinzip der Einstimmigkeit zu gerne kippen würden. Doch genau das steht dagegen. Nun heißt es, man wolle die Konsultationsprozesse verbessern.

Wie verheerend die derzeit verlaufen, kann man aus den - jüngst ganz passablen - Beziehungen zwischen Berlin und Paris ablesen. Präsident Macron fordert - ohne genau zu sagen, was er darunter versteht - eine »strategische Autonomie« der Europäer in der Nato. Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hielt das jüngst so grob wie öffentlich für eine nicht wünschenswerte Illusion. Sie setzt wie zu Zeiten der Nato-Gründung 1949 auf die Vormachtstellung der USA und fühlt sich unter deren Nuklearschirm wohl. Mehr Strategielosigkeit ist kaum möglich.

Die Beschreibung der Rolle des sogenannten europäischen Pfeilers in der Nato wird in Washington kaum noch wahrgenommen. Kein Wunder: Wann haben die Europäer in der Nato in den vergangenen Jahren mal mit einer Stimme ge- oder sogar widersprochen? Selbst als man in Brüssel Moskau - nicht ganz ohne Mithilfe der dortigen Regenten - zur neuen Gefahr für den Rest Europas aufgebaut hatte, winkten einige Mitglieder ab. Italien und Spanien sehen ihre Probleme an den Küsten des Mittelmeers, London ist erschöpft vom EU-Austrittstrudel.

Und die USA? Die werden sich unter dem künftigen Präsidenten Joe Biden noch weiter auf die Großmacht China und den pazifischen Raum konzentrieren. Was heißt das für die Nato? Nur wenn man bereit ist, sich dort ebenso zu engagieren, wird die Allianz für die USA überhaupt interessant bleiben. Es ist höchst zweifelhaft und bei der zweitägigen Konferenz nicht geklärt worden, ob sich die Nato - über bestehende Partnerschaften in der Region hinaus - dazu aufraffen kann. Erstens verfügt sie nicht über die materiellen Fähigkeiten, in Asien permanente Präsenz zu zeigen. Zweitens ist eine solche Ausrichtung nicht besonders attraktiv für jene Mitgliedsstaaten, die geradezu Russland fixiert sind.

Dass der Generalsekretär zur Videokonferenz auch die Außenminister der Ukraine und Georgiens eingeladen hat, zeigt gleichfalls keinen Kurswechsel in der auf militärische Kraft basierenden Ostpolitik der Nato.

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