»Das Gerede von der Corona-Diktatur ist Unfug«

Verfassungsrechtler Udo Di Fabio im Interview über Corona-Maßnahmen und das Infektionsschutzgesetz

  • Irene Dänzer-Vanotti, epd
  • Lesedauer: 6 Min.

Bonn. Der Bonner Verfassungsrechtler Udo Di Fabio erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), unter welchen Bedingungen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen aufgelöst oder verboten können werden, warum er das Gerede von einer »Corona-Diktatur« für Unfug hält und warum das Wort »ermächtigen« in Gesetzestexten nichts mit der nationalsozialistischen Diktatur zu tun hat. Der 66-jährige Jurist, der als Professor am Institut für Öffentliches Recht an der Universität Bonn lehrt, gehört auch dem Corona-Expertenrat des Landes Nordrhein-Westfalen an.

epd: Bei Demonstrationen der »Querdenker«-Bewegung in den vergangenen Wochen haben sich Teilnehmer nicht an die Abstands- und Hygieneregeln gehalten, obwohl sie zu den Auflagen gehörten. Wann wiegt das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit schwerer als der Schutz vor der Pandemie?

Di Fabio: In einer freien und offenen Gesellschaft im demokratischen Rechtsstaat genießen die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit einen hohen Rang. Ohne diese Rechte wäre die Gesellschaft ja nicht frei. Allerdings ist die Versammlungsfreiheit kein »absolutes« Grundrecht wie die Menschenwürde. Deshalb muss das Recht auf Versammlungsfreiheit mit anderen Grundrechten abgewogen werden. Das ist eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit. Angesichts einer pandemischen Lage dienen Auflagen oder die Untersagung von Versammlungen letztlich dem Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit anderer Menschen und nicht der Unterdrückung einer bestimmten Meinung. Jede persönliche Freiheit findet ihre Grenze im Freiheits- und Entfaltungsanspruch der anderen. Für Demonstrationen von Gegnern der Corona-Maßnahmen, die sich nicht an die vorgeschrieben Regeln halten, ergibt sich daraus, dass ihr Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden darf zugunsten des Rechts auf körperliche Unversehrtheit anderer.

epd: Entspricht es auch dem Grundgesetz, eine solche Demonstration ganz zu verbieten?

Di Fabio: Ja. Wenn bei einer Demonstration aus Erfahrung zu erwarten ist, dass die Auflagen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung nicht eingehalten werden, kann in der Abwägung das Recht auf körperliche Unversehrtheit höher bewertet werden als das Recht auf freie Versammlung. Allerdings gilt auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Verbieten erst, wenn andere Maßnahmen nicht Erfolg versprechen.

epd: Wie erklären Sie, dass Gerichte in diesem Punkt unterschiedlich entscheiden?

Di Fabio: Das kann schon an geringfügig anderen Umständen in der Sache selbst liegen. Gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder der Gleichheitsgrundsatz lassen unterschiedliche Wertungen zu. Im Übrigen gilt: Gerichte sind unabhängig und damit auch grundsätzlich unabhängig voneinander. Das garantiert das Grundgesetz.

epd: In Frankfurt konnten die »Querdenker« nicht demonstrieren, weil sich die Demonstranten zuvor nicht an die Regeln gehalten hatten. In Berlin und Leipzig ist das anders.

Di Fabio: Demonstrationen werden nicht genehmigt; sie werden nur angemeldet. Das regelt das Versammlungsrecht im Einzelnen. Die örtlichen Behörden können je nach Sachlage unterschiedlich entscheiden. Da das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit zu den elementaren Voraussetzungen der Demokratie gehören, werden Behörden vor Ort immer versuchen, eine Versammlung zu ermöglichen. Erst, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gar nicht anders zu vermeiden ist, kommt das Verbot in Betracht.

epd: Wann und mit welchen Mitteln sollte die Polizei Demonstrationen auflösen?

Di Fabio: Das muss die Polizei auch hier jeweils nach der Situation entscheiden. Die Polizei ist auf Deeskalation ausgerichtet, also darauf, Gewalt und andere Straftaten zu vermeiden, Konflikte zu schlichten und sie nicht weiter anzuheizen. Das hat sich als die angemessenste Taktik bei Demonstrationen erwiesen. Rechtsverstöße sollten konsequent geahndet werden. Die Polizei handelt bei uns im rechtlich geregelten und demokratisch kontrollierten Raum. Der Innenminister eines Landes oder der Bundesinnenminister sind dafür den Parlamenten gegenüber verantwortlich und Gerichte können Polizeibeamte zur Verantwortung ziehen. Auf der anderen Seite wird die rechtsstaatliche Demokratie sich immer vor Polizeibeamte stellen, wenn sie angegriffen werden.

epd: Was kann man denjenigen entgegenhalten, die in der gegenwärtigen Situation von einer »Diktatur« sprechen, aber gleichzeitig ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben?

Di Fabio: Das Gerede von der Corona-Diktatur ist Unfug. Es mag sein, dass es im öffentlichen Meinungsraum manchmal allzu starke Mehrheitsströmungen gibt, die abweichende Ansichten geradezu für unmoralisch halten. Aber genau dagegen kann man sich wenden. Die Demokratie unserer freiheitlichen Gesellschaft ist in puncto Meinungsfreiheit tolerant, aber manchmal zu aufgeregt, sucht zu sehr nach Anlässen für Empörung. Die Dynamik des Netzes ist eine neue Wirklichkeit, die den öffentlichen Meinungsraum erweitert hat, aber nicht nur ein Segen ist, wenn dort Verschwörungstheorien, Hassbotschaften oder einfach nur Blödsinn unterwegs sind. Das meiste davon wird eine offene Gesellschaft einfach aushalten, aber bei Volksverhetzung und gefährlichen persönlichen Angriffen muss konsequenter die Grenze des Rechts sichtbar gemacht werden.

epd: In Bezug auf das Infektionsschutzgesetz hat die Opposition kritisiert, dass die Parlamente zu wenig Recht auf Mitbestimmung haben.

Di Fabio: Dass Parlamente mehr Mitsprache verlangen, gehört zum politischen Geschäft. Ob die gesetzlichen Ermächtigungen hinreichend konkret und bestimmt waren, darüber konnte man streiten, aber einen echten verfassungsrechtlichen Missstand kann ich nicht feststellen. Krisen sind immer die Stunde der Exekutive, der ausführenden Gewalt, weil es schnell gehen, weil in Kontakt mit fachlicher Beratung flexibel reagiert werden muss. Aber die Parlamente waren bereits im März im Spiel und sind inzwischen wieder gesetzgeberisch tätig geworden. Es ist eine Fehlvorstellung, dass die Exekutive aus dem Ruder läuft. Die Regierungen im Bund und den Ländern stehen auch wegen des Föderalismus im Vordergrund. Bundesregierung und Landesregierungen haben jeweils eigene Kompetenzen und müssen deshalb die Corona-Maßnahmen untereinander abstimmen. Man kann ja nicht zwischen den 16 Landesparlamenten und dem Bundestag jeweils nach Infektionslage einen politischen Konsens aushandeln. Deshalb übertragen die Parlamente diese Aufgabe der Regierung und kontrollieren sie.

epd: Der Ausdruck »ermächtigen« hat zu Unklarheit geführt, weil eine Nähe zum Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten hergestellt wurde.

Di Fabio: Die gesetzliche Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen durch die Regierung ist ein rechtsstaatlicher Normalfall und hat nichts mit dem Staatsstreich der Nazis im Jahr 1933 zu tun. Wer da aus dem Begriff böswillig etwas anderes herleiten will, sollte einmal Artikel 80 des Grundgesetzes lesen, wo unsere Verfassung diesen Begriff ganz nüchtern gebraucht. »Ermächtigen« ist einfach ein Wort dafür, dass die Parlamente Regierungen den Auftrag geben, die von ihnen erlassenen Gesetze auszuführen.

epd: Wer wird eines Tages entscheiden, wann die epidemische Notlage nationaler Tragweite beendet ist?

Di Fabio: Das ist der Deutsche Bundestag. Der Bundestag hat im März eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt, und zwar auf der Grundlage des Bundesinfektionsschutzgesetzes. Auch das ist kein Notstand, aber dadurch erhält der Bundesgesundheitsminister auf bestimmten Gebieten gegenüber den Ländern eine stärkere Stellung. Wenn sich die Situation entspannt, wird der Bundestag diese epidemische Lage für beendet erklären. epd/nd

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