Töpfern im Indian Summer: Die Konstruktion einer Welt

  • Lesedauer: 9 Min.

Präludium

Ernst Ludwig Becker

Becker, geboren 1957, studierte Biologie an der Philipps-Universität in Marburg, an der TU Darmstadt und am Juniata College in den USA, an dem er auch das Töpfern lernte und einen »Award for excellent Studio Arts« bekam. Er arbeitete in verschiedenen Berufen und war politisch aktiv. In Spanien, Frankreich und Griechenland engagierte er sich auf freiwilliger Basis bei ökologischen Projekten. Heute schreibt er Bücher und unterrichtet in Teilzeit an einer Grundschule.

Der Herbst ist für mich die Herrlichste der vier Jahreszeiten. Natürlich schätze ich auch den Sommer, wenn ich im erfrischenden und belebenden Fluss baden kann und auch der Frühling überrascht mich immer wieder mit seiner vielfarbigen Blütenpracht und dem Erwachen allen Lebens. Aber es ist der Herbst, der meine Sinne am unbeschreiblichsten erregt, mich und meine Seele am mannigfaltigsten berührt. Es ist der Herbst, den ich liebe. Wenn die Blätter sich verfärben, wenn die vielen roten, rötlichen, gelben und bräunlichen Farben und Farbtöne die Bäume verzieren, ganze Wälder in ein golden strahlendes Landschaftsgemälde verwandeln und die göttlichen Farbenspiele die sanften Haine der Hügel überziehen. Die aufgehende Sonne vertreibt den Morgennebel, der über dem Fluss und dem Garten schwebt und lässt die Ahornbäume in goldgelben und purpurroten, zarten Licht erstrahlen. Der Herbst ist die Zeit, in der sich die Natur auf den Winter vorbereitet, die belaubten Bäume das lebenspendende Blattgrün für das nächste Frühjahr aufbewahren. Die Tage werden langsam kürzer, die Abende mild und klarer und ich kuschele mich gemütlich ein, bei dem Schein einer Kerze und einem guten Buch. Dann genieße ich noch einmal den wundervollen Tag mit seinem blauen Himmel, ziehe noch einmal in Gedanken durch den farbenprächtigen Wald und ahne den Geruch des Laubes, das langsam zu Boden fällt und das selbst die schlafende Wiese in meinem Garten bedeckt und den Weg verziert, der zu meinem gläsernen Gartenhäuschen führt. Das Haus, in dem ich jetzt wohne, hat eine himmlische Lage an einem breiten, sanften Fluss und tagsüber kann ich die schwarz-weißen Lastkähne beobachten, die mit Erde beladen zur fernen Verladestation fahren. Am Ufer, das teils mit kugelförmigen Weidebüschen und aufrechten, hochgewachsenen Pappeln bewachsen ist, habe ich auch einen Steg bauen lassen, an dem ein Boot angebunden ist, falls ich einmal auf die andere Seite in eines der historischen Städtchen übersetzen will und eine sichere Stiege führt ins helle Wasser, in dem ich mich in den heißen Sommermonaten treiben lassen kann. Dann sitze ich auch oft auf meiner Bank, mit einer Tasse Tee und schaue über das Wasser und erhole mich von unserem Streifzug in unserem nahe gelegenen Wald, erhole mich von einer langen Reise in die Geschichte, - habe Zeit und Muße zum Beschauen und Nachdenken. Höchstwahrscheinlich mag ich jetzt diese Jahreszeit noch mehr, weil ich in einem Lebensabschnitt bin, den auch wir den Herbst des Lebens nennen. So wie die vier Jahreszeiten ein Sinnbild für unser ganzes Leben veranschaulichen. Das Frühjahr, die Zeit unserer Kindheit und Jugend, in welcher noch alles wächst und blüht und sich entfaltet, der Sommer, in dem die Früchte wachsen, die Ähren reifen und die Ernte eingefahren wird, der Herbst, der noch einmal alle Blätter zum Leuchten bringt, der auf das Ende vorbereitet und du letztendlich wie ein Blatt zu Boden fällst, um im Winter unter der kalten, harten Erde zur Ruhe zu kommen. Nur, dass es keine Winter mehr gibt.

I. Akt Erster Satz adagio

Vielleicht mag ich den Herbst aber auch, weil ich in den Wäldern des William Penn aufgewachsen bin, verständlicher gesagt, im Staate Pennsylvania in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von den bunten Wäldern der »Rolling Hills,« ich meine ersten Kindheitserinnerungen an die Indian Summer in mir trage, die sonnigen Altweibersommer, wie wir sie in Deutschland nennen, die warmen Tage im Herbst, im Autumn oder Fall, wie es im Englischen heißt, mit dem strahlend blauen Himmel. Tage, an denen ich mit meinen Eltern und meinem Bruder durch die Gehölze hinter unserem Blockhaus streifte, in dem zum Teil undurchdringlichen Buschwerk, den abwechselnden Birken, Eichen und Ahornbäumen, dem Zuckerahorn, von welchem wir einen unvergesslichen Sirup herstellten, den wir über unsere Butterpfannkuchen gossen. Kindheitserinnerungen. Erinnerungen, gefüllt mit starken Emotionen. Ich kann nicht sagen wie alt ich damals war, aber es sind Bilder oder Geschehnisse, an die ich mich in jüngster Kindheit erinnern kann, die mit einem Erschrecken oder kurzen Schock verbunden sind, indem ich etwa, neugierig wagend, den Schraubenzieher in die Steckdose steckte und ich im ersten Moment nicht verstand was mit mir geschehen war, nachdem dieser heftige Ruck durch meine Arme rollte und ich die Hände, wie im Reflex, blitzartig in die Höhe riss. Oder der Tag, an dem ich mir die Hand verletzte, als ich mit dem großen Einmachglas voller Pfirsiche auf der Treppe stürzte. Dann sehe ich die Treppe und unser Haus vor mir, die Steintreppe, die nur wenige Stufen von unserem Vorratsraum nach draußen führte, sehe die scharfen Glasscherben mit dem klitschigen Nass und den gelben, weichen Früchten auf dem grauen Zement. Ich sehe wie eine rote Flüssigkeit zwischen meinem Daumen und dem Zeigefinger auf meine Handfläche rinnt und ich die Hand betrachte, als würde ich sie zum ersten Mal sehen, den abgespreizten Daumen und die vier Finger, die blass und weiß sich nach oben strecken, beobachte, wie die rote Flüssigkeit langsam, träge zur Mitte der Hand läuft, so wie die zähe Flüssigkeit vor mir auf der Treppe, die langsam die Stufe hinab und auf meine Füße sich zubewegt. Ich schrecke auf aus meiner Trance, spüre den Schmerz und beginne zu weinen und laufe vorbei an dem Scherbenhaufen, auf den Pfad mit rohen Steinplatten, zur Holztreppe, hinauf zur Porch, ein Vorbau oder eine Veranda, die entlang des Stockwerks sich befindet und auf welcher meine Mutter schon aus der Küchenschwingtüre mit dem Fliegengitter schaut und mir entgegenkommt.

Das Haus, in dem ich groß geworden bin, gehörte schon den Urgroßeltern meines Vaters, von denen noch zwei alte, bräunliche Fotografien am Ende der Treppe hingen, welche mir merkwürdigerweise gut in Erinnerung geblieben sind, vielleicht, weil ich ja täglich auf dem Weg zu meinem Zimmer an ihnen vorbei gehen musste, vielleicht auch, weil die Bilder in einer Höhe hingen, die mit meiner Größe korrespondierten und sie, die Ahnen, mit ihren Augen meinen Weg die Treppe hinauf und hinab beobachteten. Manchmal versuchte ich mich an ihnen vorbei zu schleichen, petzte die Augen zusammen und rannte die wenigen Schritte in mein Zimmer. Es mag sein, dass auch schon die Ur-Ur-Urgroßeltern oder deren Eltern mit dem Bau begonnen hatten, hier in Amerika ihr Domizil, ihr neues Heim aufbauen wollten, so genau konnte man das nicht mehr feststellen. Viele der Archivalien gingen verloren. Hier war es eine große Flut und in Deutschland hatte der Krieg und das Feuer die Dokumente zerstört.

Das Haus lag an einem seichten Hang, von welchem sich für viele Meilen der nahezu ursprüngliche Wald über die abgeschliffenen Hügel erstreckte. Der Wald, der nur sanft berührt wurde, in seiner Einzigartigkeit belassen, betreten von den Ureinwohnern, dem Volk des aufrechtstehenden Steines, die hier jagten, Waldfrüchte sammelten und welche vom Wasser der örtlichen Quelle tranken, wie ein paar verlorene Pfeilspitzen und Scherben von Tongefäßen in ihrer Nähe bezeugten. Der Wald, der wundersamer Weise verschont geblieben war und nur die Lichtung um das Grundstück und die Wiese frei geben musste. Das ursprüngliche Blockhaus wurde mehrfach erweitert und aufgestockt und schmiegte sich harmonisch zwischen die Bäume, die für mich wie Urwaldriesen emporragten. Die schweren, beidseitig behauenen und geschälten Baumstämme des Hauses, ruhten auf einem mit flachen Steinen aufgebautem Gewölbe, das in den Hang integriert war und als Lagerraum und Vorratsraum genutzt wurde, von welchem die besagten Treppenstufen hinaufführten. Die Stämme waren derart gelagert, dass große Zwischenräume entstanden, die, wie mir mein Vater erklärte, früher mit Moos oder Schafswolle ausgefüllt und abgedichtet wurden. Bei den Umbauarbeiten wurde nach und nach alles renoviert. Jetzt waren die rohen, dunklen Stämme mit hellem Mörtel ausgefugt und bildeten ein unterschiedlich breites Streifenmuster, was durch moderne, hellgrün gestrichene Fenster und die Küchentüre unterbrochen wurde. Sie umschlossen einen ansehnlichen, robusten Raum, den wir als gemeinsame Küche, Wohnzimmer und Esszimmer benutzten. Der neue Anbau bestand aus dem Schlafzimmer meiner Eltern, das eine abgetrennte Dusche und Toilette hatte und aus der vorgelagerten Treppe, die zu den drei kleineren Zimmern unter dem ausgebauten Dach und zu einem schlichten Bad mit Badewanne führte. Die rosafarbene Badewanne. Ich sehe den blonden Lockenkopf, der über den Rand der Wanne ragt, mit strahlend blauen Augen, mit strahlend, kindlichem Gesicht. Der begehbare Wandschrank unter der Schräge fällt mit wieder ein, der mit der Schiebetür, in welchem ich mich oft verborgen hatte, wenn ich mit meiner Mutter oder dem Vater Verstecken spielte. Oder der Lichtfleck, das helle Karree, mit dem grauen Schattenkreuz des Schiebefensters, das sich langsam mit der Sonne entlang der grünlichen Wand bewegte, während ich mit meinem Vater auf dem Bett lag und er mir eine Geschichte vorlas. Eigentlich Zeit für mein Mittagsschläfchen, aber es war dann er, der mit sanften Schnarchen neben mir einschlummerte. Als Mädchen interessierte ich mich unüblich wenig für Pupen, auch wenn ich einige besaß. Ich hatte ein Holzflugzeug, mit dem ich durch mein Zimmer flog, über das Bett und die Nase des schlafenden Vaters. Ich flog seitlich der sonnenbeschienenen Wand, bog nach links ab durch den Lichtstrahl, über dem Lichtstrahl entlang und auf die Topfpflanzen zu, die auf dem Schränkchen neben dem Fenster standen. Zwischen ihren herzförmigen oder ovalen, grünen Blättern konnte man traumhaft durch einen undurchdringlichen Urwald fliegen und von da ging es ab nach oben zu dem blauen Planeten, der auf meinem Bücherregal stand. Mein blauer Planet.

Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Das Gehirn ist ein Wunderwerk der Natur. Die Neugierde, die Fantasie und die Vorstellungskraft, die von diesem Organ ausgehen, sind Grundlage der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Werkzeuge und Waffen waren erste Kreationen. Die landwirtschaftliche Revolution, der technische Fortschritt machten die Welt zum Untertan. Das Gehirn denkt sich Verhaltensregeln aus und sozialisiert. Es musiziert. Aber es schafft auch geistige Welten, Mythen, Märchen, es erklärt Religionen und philosophiert. Und es denkt über sich selbst nach. Versteht das Bewusstsein, dringt ein in das Unbewusste, die Träume und die Erinnerungen und erkennt, dass es mehr als eine Wirklichkeit gibt.

Emily, die Tochter eines Töpfers aus Pennsylvanien, konstruiert ihre eigene Wirklichkeit, um den Tod ihres Bruders zu überwinden. Sie lernt viel über die Töpferei, über die Natur und die Naturgesetze, über die Geschichte der Menschen. Aber viel wichtiger ist, dass sie lernt, ihre Fantasie zu benutzen - denn nur in ihrer Fantasie wird die Zukunft Wirklichkeit. Nur die Fantasie kann den Tod überwinden.

Ernst Ludwig Becker:
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten - eine Hommage an die menschliche Vorstellungskraft.
Roman
Verlag Tredition
160 S., geb., 16 €

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