Schwefelhölzer und der Schimmel an der Wand
Camilla Grudova greift die ehrwürdige Tradition des schaurigen Kunstmärchens auf
Oooch, die niedliche Arielle! Wie sie unbeschwert durch die Meere schwimmt, mit ihren lustigen Fischfreunden spielt, wild-harmlose Abenteuer in Serie erlebt und gelegentlich mit einem Augenzwinkern von ihrem gestrengen Göttervater gerügt wird. Genauso hätte es sicher gern auch der Erfinder der kleinen Meerjungfrau, der 1805 geborene dänische Dichter Hans Christian Andersen aufgeschrieben, wäre er in einer Vorortidylle aufgewachsen und hätte er nicht selbst Not und Elend in seiner Kindheit erlebt.
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Camilla Grudova: Das Alphabet der Puppen.
A. d. Engl. v. Zoë Beck. Culturbooks, 200 S., geb., 20 €.
Viele seiner Kunstmärchen, die oft auf älteren Motiven basieren, spielen in engen Gassen, lichtlosen Behausungen, freudlosen Kneipen. Die Meerjungfrau ist stumm, ihre ersehnten Menschenbeine schmerzen, ein Waisenkind erfriert, Rachitis und Tuberkulose sind häufiger zu Gast als ein verirrter Singvogel. Geschildert haben die Misere etwa 1845 Friedrich Engels in »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, 1892 Charles Booth in »The Working Poor of London« oder Hans Ostwald 1905 in »Großstadt-Dokumente. Berlin«.
Der »Säuregeruch der chemischen Fabriken« durchzieht auch das Erzähldebüt der Kanadierin Camilla Grudova von 2017. Die Menschen in ihren Geschichten leben in einem unbestimmten viktorianischen Zeitalter (irgendwann wird ein 1980 erwähnt), in feuchten, überlebten Häusern, nähren sich von Rindfleisch in Dosen und halten frisches Gemüse für unerreichbare Kostbarkeiten. Sie tragen schäbige, zusammengestückelte Kleidung und arbeiten in seltsamen Fabriken. Wenn sie arbeiten. Männer sind ungewaschene und tumbe Wesen, die unbenannte Prüfungen absolvieren müssen; die man sich, weil es sich so gehört, von der Straße auflesen muss. Kinder sind die Träume der Reichen, den Vulven der Armen entwinden sich gesichtslose Wurmklümpchen. In der Eingangserzählung trennt eine Greta sich wie ein Kleidungsstück auf, um ihr wahres Ich hervorzuholen: ein ameisenartiges Nähmaschinenwesen. Andere Frauen tun es ihr gleich, und Nähmaschinenarbeit wird zum Angriff auf weibliches Selbstsein, die Maschine zum bloßen ästhetischen Objekt.
Eine junge Latein liebende Mutter, deren Zwillinge Aeneas und Arthur heißen, macht in einem Fotoautomaten die Entdeckung, dass sie sich mählich in eine Wölfin verwandelt. Ein schrulliger Kramladenbesitzer nimmt eine Meerjungfrau vom Strand mit nach Hause, die sich höchst merkwürdig benimmt. In einer Nähmaschinen-Glühbirnen-Konstruktion erwecken zwei Mädchen einen Engel und einen Pierrot im Dachbodendämmer. Die Traumgesichte verwandeln sich in obszöne Albträume. Aus der Kopulation eines Tintenfischs und einer Galionsfigur erwächst ein hölzerner Wandleuchter, der in einem schmierigen Künstlercafé Dienst tut, bis ihn sich eine Serviererin als Geliebten nimmt.
Camilla Grudova ist eine würdige Nachfolgerin des unglücklichen Justizrates E. T. A. Hoffmann, sie hebt die Olimpia aus dem »Sandmann« ins 21. Jahrhundert, und Klein Zaches reinkarniert als Spinnenmann. Wie bei Hoffmann streckt das Grauen im Alltäglichen das zierliche Krallenhändchen aus. Chapeau der Meisterin! Wo bleibt ihr nächstes Buch?
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