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Die Dame mit Schale und Schwert
Trennung soll der Mensch auf Müll beschränken, das kann zumindest nicht schaden. Konserven zum Metall, Flaschen zum Glas, Knochen in den Kompost. Papiere zu Papieren.
Sie nahm die Brille ab, rieb sich die Augen, kramte in der Handtasche nach dem Schminkbeutel, wo das Fläschchen mit den Tropfen steckte. Der natürliche Tränenfluss verdunstete zu schnell und deshalb brannten die Augen. Sie legte den Kopf in den Nacken, hielt das Fläschchen hoch und drehte es um. Die zähe Flüssigkeit trat aus der Öffnung, quoll und blähte sich auf zu einer Perle, bis das Gewicht abriss und der Tropfen im Augenwinkel zerplatzte. Das Gel legte sich kühl über die Hornhaut. Schlieren trübten den Blick. Ein paar Lidschläge folgten, dann sammelte die Linse wieder tadellos Licht und die Richterin mit klarer Sicht sortierte die Akten von Menschen.
Geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet Mischkulnig heute in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u. a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis (2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2010), Veza-Canetti-Preis und Johann-Beer-Literaturpreis (beide 2017), zuletzt Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur (2020).
Bei Haymon erschienen: »Hollywood im Winter«, Roman (1996); »Macht euch keine Sorgen. Neun Heimsuchungen« (2009); »Schwestern der Angst«, Roman (2010, Haymon tb 2018); »Vom Gebrauch der Wünsche«, Roman (2014) und »Die Paradiesmaschine«, Erzählungen (2016).
Die meisten Fälle, mit denen sie in der zweiten Instanz zu tun hatte, behandelten Beschwerden, die eine andere Entscheidung in der Sache anstrebten, um Recht zu erlangen. Rechtsfrieden herzustellen ist eine juristische Angelegenheit und hat wenig mit dem natürlichen Sinn von Gerechtigkeit zu tun. In den Asylfällen zählten die nachgereichten Unterlagen viel. Sie halfen, das Bild von den negativ Beschiedenen zu verändern und Verfahrensfehler zu korrigieren. Falls die Richterin in der einen oder anderen Causa zum Entschluss käme, eine neue Hypothese der Zusammenhänge anzunehmen, würde sie dieser aufgrund der neuen Faktenlage folgen. Käme es nach ihrer Erkenntnis zu Widerspruch in den Aussagen des Antragstellers, denn in den meisten Fällen handelte es sich um einen Mann, dann könnte sie nachfragen und Aufklärung erhalten. Wer mit Gabrielles Erkenntnis nicht zufrieden war, der konnte sich an das Höchstgericht wenden und vielleicht sogar an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Gabrielle verkündete ihre Urteile nur mündlich, wenn sie sich der Sache sicher war. Ansonsten erließ sie schriftlich ihre Entscheidungen.
Gabrielle schätzte die Abwechslung in ihrem richterlichen Alltag zwischen Asylfällen, großen Vertragsabschlüssen des Bundes und deren Anfechtungen und anderen Bereichen des Vergaberechts. Doch schon seit einiger Zeit mehrten sich die Asylfälle. Sie blätterte, studierte die Unterlagen der Beschwerdeführer. Nach der Musterung legte sie die Fälle entweder links oder rechts von sich ab. Die Stapel wuchsen nur langsam. Immer wieder träufelte sie die Tropfen in ihre Augen, um den Lesefluss in Gang zu halten. Nach einer Stunde unterbrach sie die Arbeit und hatte Lust auf einen Kaffee. Sie holte Wasser, füllte es in den Container und schaltete die Maschine ein, um das Wasser aufzuheizen.
Der rechte Stapel war für die simplen schutzwürdigen, der linke für die komplizierteren Causen angelegt. Die Termine für die Verhandlungen setzte sie nach der Komplexität der Fälle fest. Noch war kein Bewerber dabei, den sie eindeutig der Abschiebung hätte zuführen müssen. Da geriet ihr das Attest einer posttraumatischen Belastungsstörung zwischen die Finger. Welche Beweise sie auch würdigte, fürs Bleiben entschied sie nach österreichischem Recht. Sie verglich die Aktenzahl mit dem Attest. Es war nachgereicht und bisher noch nicht berücksichtigt worden. Sie sah die Papiere zur betreffenden Person durch und strich im Bescheid der ersten Instanz das Zitat der Länderdokumentation an. Dann legte sie den Akt links ab.
Der Betroffene war männlich, weit unter 30, ohne Ausbildung, seit der Pubertät auf der Flucht. Gabrielle prüfte die Angaben der anwaltlichen Vertretung des nächsten Falles, zog wieder ein ärztliches Gutachten hervor und stellte fest, dass derselbe Arzt die Atteste geschrieben hatte. Sie legte das Blatt ein, schob den Akt von sich weg. Die Distanz des Gutachters, der die psychiatrische Untersuchung vorgenommen hatte, musste sie in Frage stellen. Wieso stammte das Attest in beiden Fällen vom selben Arzt, und wieso kam es erst jetzt daher? Korrektheit machte Gabrielle nicht unmenschlich, nur emotional unberührbar für das Amt. Die Augen tränten. Die Richterin war froh, das Büro für sich allein zu haben. Ein Organ der Rechtspflege mit solch nassen Augen sähe aus, als würde es über den Akten weinen.
Sie nahm den Kalender, blätterte, blies die Wangen auf. Sie hatte den Termin beim Augenarzt nicht vergessen. Da klingelte das Telefon in ihrer Manteltasche. Sie ging zur Garderobe und fischte es hervor. Eine Schweizer Nummer stand auf dem Display. Ihr Herz klopfte schneller. Sie hatte keine Lust abzuheben. Mut oder Lust, was wusste sie schon über den Anrufer, jetzt jedenfalls war nicht der richtige Zeitpunkt dazu. Sie setzte sich wieder hin und überlegte, was geschähe, würde sie den Augenarzt anrufen und eine Verspätung ankündigen. Sie würde nicht rechtzeitig zur Besprechung ihres eigenen Befundes kommen. Die Sprechstundenhilfe würde sie natürlich mit dem Doktor verbinden.
Gabrielle schaute das Telefon überlegend an und wählte nicht die Nummer. Natürlich wäre der Arzt da, bereit, und würde sie konfrontieren. Aber womit? Mit guter oder schlechter Prognose. Die Richterin spürte den Widerwillen, doch sie war verantwortungsbewusst, besonders in ihren persönlichen Belangen. Egal. Sie würde das Gespräch ja nicht absagen, hatte nur zu viel zu tun im Augenblick und gleich eine Verhandlung zu führen. Sie würde später oder morgen wegen eines neuen Termins anrufen und dann vorbeikommen. Sie erledigte stets alles sofort, nur nicht, was ihr selbst zu Leibe rückte.
Sie ging mit sich selbst ins Gericht und gab einen mürrischen Grunzer von sich. Wäre es nicht besser, gleich den Befund zu erfahren und alles abzuklären, um gegebenen falls noch am gleichen Nachmittag mit der Behandlung beginnen zu können? Ja klar, sagte sich Gabrielle, aber man müsste darauf gefasst sein, dass sich das Leben vollkommen ändern kann durch eine Diagnose. Und sie hatte noch eine wichtige Sache zu erledigen. Im Namen der Republik würde sie heute Asyl verkünden. Natürlich, sagte sie sich, ist nicht nur eine Diagnose usurpatorisch.
Gabrielle legte den Daumen in die dafür vorgesehene Mulde und drückte den Knopf, mit dem sie den nächsten hereinkommenden Anruf ablehnte. Die Funktionstaste war mit dem Symbol eines altmodischen roten Telefonhörers gekennzeichnet. Wer erinnerte sich noch an das Gefühl, den Hörer, schwer wie eine Hantel, abzuheben? Man sprach in den Hörer, genauer in seine Sprechkapsel, während die Hörkapsel an das Ohr gepresst wurde. Der Hörer war mit einem spiralisierten Kabel an den Standapparat von der Größe einer Handtasche gebunden. Mittlerweile war der Hörer längst losgelöst von seiner ursprünglichen Form und integriert in einen viereckigen Computer. Das Zeichen des Hörers hatte sich aber für das Telefonieren erhalten und durchgesetzt.
Auch Namen sind Zeichen. Man kann sie den Menschen geben und nehmen. Man kann einen Namen an viele vergeben und Gleichnamige schaffen. Wie viele Ahmads hatte sie in ihren Stapeln? Jeder Mensch ist ein Namensträger, jeder Mensch ist einzigartig, sofern er einen Namensgeber hat. Der Name ist nicht einzigartig, beliebig teilbar und eine Zuschreibung, die Informationen zur Identifizierung enthält. Der Name überdauert die physische Materialität seines Trägers. Er bleibt als Spur vom Begriff einer Informationsmenge auf dem Grabstein stehen, sofern er in einen Grabstein gemeißelt worden ist, und wittert in romantischer Unsterblichkeit vergessen dahin. Namen kann man abziehen und hinschreiben, den Menschen dahinter erschreiben.
Die Richterin mied den Sog der Vorstellungskraft, sie war eine Verkünderin von Wirklichkeit. Unter diesem Damoklesschwert lebte sie. Fall und Zufall veränderten ihre Vorstellung von Gerechtigkeit. Die Beute dieser Jagd nach Gültigkeit ihrer Sprüche war sie selbst.
Die Sonne knallte durch die Fenster. Der ganze Stock war überhitzt. Sie fächelte sich mit der Broschüre einer NGO Luft zu. Das Blatt war gefaltet, auf beiden Seiten mit jungen afghanischen Männern bebildert. Das Innenleben listete Gründe auf, weshalb Afghanistan nicht als hinreichend sicheres Drittland eingestuft werden konnte. Kriegsähnliche Zustände überall. Verbrechen an Leib und Leben, soweit das Auge reichte.
Gabrielle schaute sich derartige Broschüren stets aufmerksam durch. Die Länderberichte waren als Argumentationshilfen verwendbar, sofern sie durch Zahlen und Daten abgesichert waren. Afghanistan erreichte demnach wieder neue Spitzenwerte an unschuldigen Toten. Arbeitsplätze fehlten und Ausbildungsplätze und die dazu notwendige Wirtschaft. Selbst der afghanische Minister für Flüchtlingsfragen bat die Republik Österreich, freiwillige Rückkehrer unter den Asylbewerbern nicht zurückzuschicken, da man zu Hause nicht wisse, wohin mit ihnen. Es wäre viel besser, sie in der europäischen Mitte auszubilden und ihnen danach mit einer kleinen finanziellen Unterstützung beim Aufbau wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu helfen.
Gabrielle kannte die unterschiedlichen Länderdokumentationen der verschiedenen Stellen. Sie haderte mit den widersprüchlichen Interpretationen und Empfehlungen. Die einen berichteten das Grauen und die anderen färbten Afghanistan schön und bekämpften kritische Einschätzungen als Hirngespinsterei einer Asyl-Lügen-Fabrik. Es gebe ihrer Meinung nach Straßenzüge in Kabul, in denen Schreiber sitzen und gegen Bezahlung Morddrohungen für die Fluchtwilligen verfertigen, um deren Asylchancen zu erhöhen. Teure Belege eines Fluchtgrundes, aber schon inflationär, weil sich praktisch jeder Fluchtwillige damit eindeckte.
Diese Schreiben waren der Richterin vertraut. Ebenso vertraut waren ihr die Verharmlosungen, dass Afghanistan als vielfältige Nation der Minderheiten über einen großen inneren Zusammenhalt mit regem Geschäftsleben verfüge. Es gab unter den konservativen, erzkonservativen Afghanistan-Experten Ignoranten, die die Triebkräfte des Eros zu beleben empfahlen, womit die Liebe zu den Frauen gemeint war. Gabrielle kannte Fabrikbesitzer, die den unqualifiziertesten Kräften Afghanistans, den Frauen, eine Chance gaben, als Packerinnen zu arbeiten und Gemüse und Obst für die US-Stützpunkte zu liefern.
Die Richterin
Gabrielle ist Asylrichterin. Auf ihr Geheiß hin dürfen Menschen im Land bleiben - oder müssen es verlassen. Täglich bestimmt sie über Schicksale. Doch worauf fußen diese Urteile? Sind es sachlich nachvollziehbare Gründe? Sind sie politisch motiviert? Wirken dabei unbewusst auch persönliche Sympathien mit? Die Entscheidung, die Gabrielle heute trifft, kann morgen unter neuen Umständen schon wieder falsch erscheinen. Die Konsequenzen aber sind nicht rückgängig zu machen.
Als das Gerücht umgeht, jemand wolle sich für ein Urteil an Gabrielle rächen, gerät ihr Leben aus den Fugen. Wird sie verfolgt? Oder ist alles nur Einbildung? Was wirklich ist, verliert für sie immer mehr seine Konturen. Lydia Mischkulnig stellt in ihrem jüngsten Roman längst überholte, aber immer noch verbreitete Rollenbilder auf den Kopf.
Lydia Mischkulnig:
Die Richterin
Verlag Haymon
296 S., geb., 22,90 €
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