Plötzlich Schwester

Die Österreicherin Angelika Lichtkoppler ist einer der 430.000 Besatzungskinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Welt kamen. Jahrelang suchte sie ihren Vater.

  • René Laglstorfer
  • Lesedauer: 6 Min.
Angelika (2. von rechts) mit drei der vier Halbgeschwister in New Orleans
Angelika (2. von rechts) mit drei der vier Halbgeschwister in New Orleans

Sie wurden »Russenkind« oder »Brown Baby« genannt, ihre Mütter als »Amischickse« oder »Dollarflitscherl« beschimpft und vielen die Haare geschoren, um sie öffentlich zu demütigen. Etwa 430 000 Besatzungskinder kamen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich infolge von Liebesbeziehungen zwischen einheimischen Frauen und alliierten Soldaten, kurzen Affären, aber auch Vergewaltigungen zur Welt. Eines dieser Besatzungskinder ist Angelika Lichtkoppler aus Österreich.

Ihre Mutter Anna Maria Preis war im Krieg ab 1942 für die deutsche Wehrmacht in Potsdam, auf Sylt und in Lübeck als Funkerin tätig und übersetzte »Nachrichten des Feindes«, weil man damit im Gegensatz zum harten »Landdienst« auf Bauernhöfen etwas Geld verdienen konnte. »Viel mehr Wahlmöglichkeiten gab es damals nicht für Frauen«, sagt Lichtkoppler. Später geriet ihre Mutter in englische Kriegsgefangenschaft. Zurück in ihrer Heimat, lernte Preis den US-Soldaten Anthony Hargis aus New Orleans kennen und lieben, mit dem sie von September 1945 bis Februar 1946 liiert war. Hargis war in einem Lager im oberösterreichischen Steyr für die Versorgung von heimatlosen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern verantwortlich. Vor Kriegsende hatte er mit der US-Armee den Rhein überschritten und war in Deutschland an der Befreiung mehrerer Konzentrationslager beteiligt gewesen. »Er war ein Held und hat viele frühere KZ-Häftlinge mit Nahrung und Kleidung versorgt«, sagt Angelika Lichtkoppler stolz über ihren leiblichen Vater.

Doch die Liebesbeziehung zwischen ihrer Mutter und Hargis ging in die Brüche, als der Amerikaner den Befehl erhielt, in die Heimat zurückzukehren. »Kurz bevor mein Vater im Februar 1946 in die USA zurückbeordert wurde, hat ihm meine Mutter noch von ihrer Schwangerschaft erzählt. Obwohl er ihr versprochen hatte, sich zu melden, hat sie nichts mehr von ihm gehört, was sie ihr Leben lang belastet hat«, sagt Lichtkoppler. Als sie im August 1946 zur Welt kam, sei ihre Mutter eineinhalb Jahre vom Jugendamt »traktiert« worden, den Namen des Kindesvaters zu nennen. »Ich habe zu meiner Mutter immer gesagt: Ich werde dir mein Leben lang dankbar sein, dass du mich geboren hast, weil du mich auch hättest abtreiben lassen können.« Wenn Angelika schlief, strickte ihre alleinerziehende Mutter tagsüber und abends für ein Unternehmen, um über die Runden zu kommen.

1950, als Lichtkoppler vier Jahre alt war, stellte die Mutter ihr einen Mann namens Josef Schnitzhofer als Vater vor. Er ging mit dem Mädchen oft zum Grab seiner jungen Frau und seines Babys. Ilse war 1949, nur neun Monate nach ihrer Geburt, an Keuchhusten gestorben. Die 29-jährige Mutter Margarethe erlag nur ein Jahr später völlig überraschend einem Herzfehler. »Für ihn bin ich wie sein wiedergeborenes Kind gewesen, und es fällt mir bis heute schwer, ihn Stiefvater zu nennen, weil er immer ein liebevoller Papa für mich war und meine Mutter abgöttisch geliebt hat«, sagt Lichtkoppler.

Als Elfjährige erfuhr die Österreicherin von ihrer älteren Cousine, dass ihr leiblicher Vater ein US-amerikanischer Besatzungssoldat sei. »Es hat mich damals nicht schockiert, irgendwie habe ich es geahnt, weil in der Familie natürlich darüber gesprochen wurde.« In der Öffentlichkeit hatte das Tabuthema Besatzungskinder aber keinen Platz. Lichtkoppler hatte mit niemandem über ihr Geheimnis reden können, nicht einmal mit ihrem langjährigen Schulfreund Helmut Köglberger, der als dunkelhäutiges Besatzungskind später zu einem der besten und bekanntesten Fußballer in Österreichs Nationalteam avancierte und jeweils die Parallelklasse von Lichtkoppler in Haupt- und Handelsschule besucht hatte. Erst 1986, als Lichtkopplers Stiefvater starb, brach ihre Mutter Anna Maria Preis erstmals das Schweigen, untersagte der damals 40-jährigen Tochter aber, nach ihrem leiblichen Vater zu suchen. »Ich wünschte, ich hätte gleich mit der Suche nach ihm begonnen«, sagt die 74-Jährige heute.

Der Wendepunkt ist das Jahr 2002, als Lichtkoppler, inzwischen selbst verheiratete Mutter sowie zweifache Oma, an Brustkrebs erkrankte. Eine Psychologin riet ihr, nach ihren Wurzeln zu suchen. Doch von ihrer Mutter wusste sie nur, dass ihr Vater Anthony hieß, nicht aber, wie sein Nachname Hargis korrekt geschrieben wird. Außerdem sei er am 16. April geboren, und sein Vater habe etwas mit Friedhöfen und Gräbern zu tun. »Also habe ich alle Steinmetzinnungen im Bundesstaat Louisiana durchforstet und 80 Briefe an Familien mit dem Namen Haiges geschrieben, aber immer ohne Erfolg«, sagt Lichtkoppler. Im Internet zahlte sie bei einer Ahnensuchplattform 210 US-Dollar - ohne Erfolg. Schließlich stieß sie online auf Mary-Ann Vandaveer aus Neckarsulm in Baden-Württemberg. Vandaveer ist selbst ein Besatzungskind, ihr Vater war - wie jener von Lichtkoppler - nach Kriegsende als US-Soldat in Europa stationiert.

Nach viereinhalbjähriger intensiver Suche erhielt die Österreicherin schließlich am 5. Februar 2007 einen Anruf von Vandaveer, dass sie Lichtkopplers leiblichen Vater in New Orleans aufgespürt habe, nachdem sie zahlreiche Schreibweisen des gesprochenen Familiennamens verwendet hatte. »Ich bekomm’ heute noch Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment denke«, sagt die überzeugte Sozialistin. Vandaveer gab ihr den Rat, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, »sonst schlagen sie dir die Tür zu«.

Schließlich entdeckte Lichtkoppler eine Sterbeanzeige. Ihr Vater Anthony Hargis war bereits 1998 mit 75 Jahren verstorben. Aber sie erfuhr auch, dass er vier Kinder hinterlassen hatte. »Die Enttäuschung, dass mein Vater gestorben ist, bevor ich mit der Suche nach ihm begonnen habe, ist groß gewesen, denn die Sehnsucht nach ihm wurde mit der Zeit immer stärker. Es tut mir sehr leid, dass ich ihn nicht mehr persönlich kennenlernen konnte. Anderseits bin ich froh, so eine große Familie mit vier neuen Geschwistern gewonnen zu haben«, sagt Lichtkoppler. Was sie überraschte, war, dass die Kinder des verstorbenen Vaters sie vorbehaltlos als ihre neue Schwester akzeptierten, was nicht selbstverständlich sei. Ihre Halbgeschwister ahnten jedoch aufgrund von Erzählungen ihres Onkels von einer Liebschaft des Vaters in Europa, dass es noch Halbgeschwister geben könnte, und waren neugierig, sie endlich kennenzulernen. »Das war für meine Mama, die 2018 im 94. Lebensjahr verstorben ist, wie eine Versöhnung.« Mit ihrer Halbschwester Lauren Gegenheimer hat Lichtkoppler eine große Ähnlichkeit. Aus Respekt vor der noch lebenden Witwe von Hargis sollte es jedoch sieben Jahre dauern, bis Lichtkoppler 2014 ihre neuen Geschwister in den USA in die Arme schließen konnte. »Wir sind uns alle um den Hals gefallen und haben vor Freude geweint. Das war ein überwältigendes Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist.«

Allein seinem jüngeren Bruder soll Anthony Hargis erzählt haben, dass er nach dem Krieg in Deutschland eine Frau kennengelernt hatte. Und dass es ihm sehr schwer gefallen sei, sie zu verlassen. Als er die Beziehung mit Angelika Lichtkopplers Mutter kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs einging, war Hargis bereits fünf Jahre verheiratet und hatte schon zwei Söhne. »Warum hat er mir das nicht gesagt? Dann hätte ich mich nie mit ihm eingelassen«, hatte Lichtkopplers Mutter gesagt, als sie wenige Jahre vor ihrem Tod von der Ehe ihres Geliebten erfuhr.

Trotz allem ist Lichtkoppler stolz auf ihren »Dad«. »Er hat sein Leben riskiert, um Europa von einem mörderischen Terrorregime zu befreien. Deshalb sehe ich mich auch nicht als Besatzungs-, sondern als Befreiungskind«, sagt die 74-Jährige. Und auch für ihre Tochter und ihre beiden Enkelkinder sei es »schön zu wissen«, wer ihr Großvater beziehungsweise Urgroßvater wirklich war.

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