Träume von einem vereinten Kaschmir

Seit über 70 Jahren streiten sich Pakistan und Indien um das ehemalige Fürstentum im Himalaya

  • Shams ul Haq
  • Lesedauer: 5 Min.

In Asien gibt es mehrere Gebiete, in denen die Gefahr einer Eskalation hoch ist - etwa die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea oder das Südchinesische Meer. Doch nirgends ist die Gefahr so real wie entlang der »Line of Control«, der Teilungslinie in Kaschmir zwischen Indien und Pakistan. Von einem kalten Konflikt zu reden, wäre eine Untertreibung: Immer wieder sterben Soldaten, aber auch viele Zivilisten entlang der hochgerüsteten und nicht offiziellen Grenze auf über 1700 Metern Höhe. Zuletzt loderten 2019 Unruhen auf, als Indien den halbautonomen Sonderstatus des ihm verbliebenen Teils des ehemaligen Fürstentums aufhob und zudem aus diesem das traditionell tibetisch geprägte Ladakh als eigenständiges Unionsterritorium ausgliederte.

In dieser Lage gestaltet sich das Leben für die Menschen unmittelbar an der Grenzlinie bisweilen schwierig. Der 20-jährige Mohammed Umer arbeitet als Müller in Chattar Deriyan im Distrikt Kotli Tehseel Khoiratta, 500 Meter von der Teilungslinie entfernt. Ein Telefonat mit Umer ist schwierig und verzögert sich über eine Woche, weil die WhatsApp-Verbindung nach Deutschland immer wieder abreißt. Ein Freund im Nachbardorf hat ein besseres Mobilfunknetz und hilft schließlich aus. Am Tag des Gesprächs kommt es unweit von Umers Heimatdorf zu Gefechten, bei denen zwei pakistanische Grenzschützer ums Leben kommen. Umer erzählt: »Am Freitag haben indische Truppen auf ein Fahrzeug der Vereinten Nationen mit zwei Offizieren der Militärischen Beobachtergruppe aus Indien und Pakistan gezielt. Wir erwarten mehr Unterstützung von den internationalen Organisationen und Medien.«

150 Menschen wohnen in den 30 Häusern des landwirtschaftlich geprägten Dorfes, ausschließlich Muslime, die sich auf drei Moscheen aufteilen. 100 Euro verdient Umer im Monat mit dem Mahlen von Getreide. Dazu verdient er sich etwas Geld in der Landwirtschaft. Viele andere junge Leute aus der Region arbeiten mittlerweile als Gastarbeiter in Saudi-Arabien, Katar oder Dubai und unterstützen ihre Familien finanziell. Gerade aufgrund der Fußballweltmeisterschaft 2022 sind einige junge Leute als Gastarbeiter nach Katar gegangen.

Der Konflikt ist in der Region deutlich zu spüren. Viele V-Männer der gegnerischen Geheimdienste sind aktiv, was den Dorfbewohnern psychisch zu schaffen macht. Das führt zu Misstrauen unter den Nachbarn. Umer kennt das Problem, bestreitet es hingegen für sein eigenes Dorf: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der mir bekannten Bewohner für den indischen Staat spioniert.« Im Dorf seien die Inder verhasst. Das liegt daran, dass die pakistanischen Orte an der Grenze in regelmäßigen Abständen von indischen Artilleriegeschossen getroffen werden. Tote und Verletzte sind immer wieder zu beklagen. Ob es falsch geleitete Attacken auf pakistanische Posten sind, ist nicht klar. In die andere Richtung finden nach offizieller Lesart solche Attacken nicht statt, da die pakistanische Regierung keine muslimischen Brüder treffen wolle. Einzig wenn indische Militärstellungen lokalisiert werden, werde zurückgeschossen.

Umer vermutet, dass die Inder diese pakistanische Zurückhaltung bewusst ausnutzen würden. Für den Konflikt um Kaschmir sieht Umer nur eine Lösung: Pakistan und Indien sollten ihren beiden Landesteilen die Gründung eines eigenen Staates Kaschmir erlauben. Das könnte auch die soziale Situation in den Dörfern mit seiner teils maroden Infrastruktur verbessern. Doch daran haben die beiden Mächte kein Interesse.

Umers Freund, der nicht mit Namen genannt werden will und bislang geschwiegen hat, widerspricht nun deutlich. Für ihn sei nur ein »Heiliger Krieg« gegen Indien denkbar. Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Vor allem in den Grenzgebieten sind unabhängig agierende Mudschaheddin-Gruppen aktiv, die Mitstreiter für einen Dschihad anwerben.

Mit dem Zerfall der britischen Hoheit über den indischen Subkontinent stellte sich für die einstigen Fürstenstaaten die Frage, welchem der neu entstehenden Staaten sie sich anschließen sollten. Für das islamisch geprägte Jammu und Kaschmir stand der Beitritt zum muslimischen Pakistan oder der mehrheitlich hinduistischen Indischen Union zur Debatte. Gedankenspiele für eine Unabhängigkeit wurden spätestens 1947 ad acta gelegt, als muslimische Freischärler in die Region eindrangen und der hinduistische Maharadscha, der Herrscher des Fürstentums Kaschmir, sich für den Beitritt zu Indien entschied. Ein Grenzkrieg brandete auf, das Land wurde schließlich entlang der Waffenstillstandslinie geteilt. Seitdem kommt es immer wieder zu Spannungen und bewaffneten Konflikten, die zudem durch einen dritten Akteur angeheizt werden: 1962 gliederte die Volksrepublik China das dünn besiedelte kaschmirische Hochplateau Aksai Chin dem eigenen Staatsgebiet ein, was Indien bis heute nicht akzeptiert. Zwischen Indien und China steigen in diesem Jahr erneut die Spannungen, erstmals seit 45 Jahren starben nach einer Prügelei an einer anderen Stelle der gemeinsamen Grenze wieder Soldaten. Pakistan hat hingegen deutlich bessere Beziehungen zu China. Die Volksrepublik investiert in Folge ihrer Initiative Neue Seidenstraße Milliardensummen in der pakistanischen Kaschmirregion Gilgit-Baltistan.

In Srinagar auf der indischen Seite der Teilungslinie mit Pakistan wohnt Abdul. Trotz guter Ausbildung arbeitet der 30-Jährige derzeit als Ladenhelfer. Über WhatsApp erzählt er, wie sich im vergangenen Jahr durch das neue Gesetz, das den teilautonomen Status für den indischen Bundesstaat Kaschmir aufhob, viel Kriegsangst und Unruhe in der Bevölkerung entstand. Seine Stadt wurde militärisch abgesperrt. Doch dann kam die Corona-Pandemie, die das aktuelle Interesse stark band, sodass sich die Lage vor Ort wieder etwas beruhigte.

Viele kleine Leute seien durch die Coronakrise existenziell betroffen gewesen. Einige mussten sogar hungern. Somit sei bei ihnen »der Wunsch nach einer Normalisierung der Verhältnisse derzeit stärker als die Beschäftigung mit dem Kaschmir-Problem«, erklärt Abdul.

So müssen viele durch die Grenze seit Jahrzehnten getrennte Familien weiter mit der Teilung leben. Bis vor Kurzem gab es einen regelmäßigen Pendelbus über die Grenze. Doch ohne Reisepass und Visum sind Besuche jenseits der Grenze seit der indischen Gesetzesänderung nicht mehr möglich.

Im Vergleich zu Umer zögerte Abdul viel mehr, einem Gespräch zuzustimmen, da er befürchtet, dass indische Geheimdienste das Internet und die sogenannten Sozialen Medien überwachen. Deshalb seien in der jüngsten Zeit viele Jugendliche verhaftet worden, erzählt er. Nach Abduls Einschätzung wünschen sich 40 Prozent der Einwohner seiner Stadt ein unabhängiges Kaschmir, 40 Prozent wollen sich Pakistan anschließen, und 20 Prozent wollen bei Indien bleiben. Die Vereinten Nationen haben seit Jahren das Selbstbestimmungsrecht der Kaschmiris angemahnt, doch daran haben die beiden regionalen Großmächte kein Interesse. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis es in Kaschmir zur nächsten Krise kommt.

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