Große Corona-Party zum Neujahr

Die ukrainische Regierung fährt einen Schlingerkurs bei der Pandemie-Bekämpfung

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir haben das nur gemacht, um eine psychologische Wirkung zu erzielen«, erklärte der ukrainische Chefsanitärarzt Wiktor Ljaschko, warum sein Land im Frühjahr, am Anfang der Corona-Pandemie, neben der viel diskutierten Einschränkung des öffentlichen Verkehrs auch Parks und Sportplätze geschlossen hat. Dabei wurde die Regelung oft recht knallhart durchgesetzt. Die Menschen erinnern sich etwa an die Bilder vom April, als ein Mann einen Sportplatz am Dnipro-Ufer in der Hauptstadt Kiew nicht betreten durfte. Der Mann versuchte dann, durch das Überqueren des Flusses von der anderen Seite dorthin zu gelangen und wurde am Ende von der Polizei empfangen. Solche Szenen waren gerade im März und im April keine Einzelfälle.

Die Ukraine zählte im Frühjahr zu den ersten Ländern Osteuropas, die sich für einen harten Lockdown entschieden haben. Ein damals verständlicher, aber harter Beschluss für viele Menschen in einem der ärmsten Staaten des Kontinents, denn laut Umfragen hatte die Mehrheit der Ukrainer Ersparnisse für nicht mehr als rund vier Wochen. Umso größer war der Unmut in der Gesellschaft, als Ljaschko zugab, manche Maßnahmen wären aus seiner Sicht gar nicht notwendig gewesen. Das niedrige Vertrauen in die Behörden gehört sowieso zu den wichtigsten Problemen der Ukraine. Die unklare Kommunikation seitens der Regierung macht die Lage auch am Jahresende nicht besser.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Eigentlich meinte der Gesundheitsminister Maxym Stepanow vor einigen Wochen, ein neuer Lockdown sei aufgrund der steigenden Infektionszahlen im Dezember nicht vermeidbar. Tatsächlich stieg die Durchschnittszahl der Infektionen im November von 9.000 auf 16.000. Wegen der niedrigen Zahl an PCR-Tests ging man in Kiew darüber hinaus von einer großen Dunkelziffer aus. Zunächst reagierte die Regierung darauf mit dem dreiwöchigen Wochenend-Lockdown, der im Grunde bedeutete, dass Einkaufszentren und Restaurants am Samstag und am Sonntag nicht öffnen durften.

Der offiziellen Statistik zufolge brachte dieser Mini-Lockdown Erfolg. Die tägliche Zahl der Neuinfektionen ging nämlich etwas zurück. Dennoch steigt die Zahl der Krankenhauseinweisungen weiterhin, was die Infektionsstatistiken in Frage stellt. Werden diese also manipuliert? Die Regierung nannte die aktuelle Entwicklung immerhin als Grund, den Wochenend-Lockdown vorerst ersatzlos zu beenden. Das heißt konkret, dass in der Ukraine aktuell vor den Winterfeiertagen neben der Maskenpflicht in öffentlichen Gebäuden sowie im ÖPNV kaum Maßnahmen gelten.

Stattdessen wurde bereits am 9. Dezember der zweiwöchige Lockdown zwischen dem 8. und dem 24. Januer verkündet. Am Anfang diskutierte die Regierung über einen Lockdown bereits ab dem 2. Januar, diese Option sorgte jedoch für Unmut von mehreren Kirchengemeinden. Zwar hat sich auch das katholische Weihnachten am 25. Dezember zuletzt als gesetzlicher Feiertag etabliert. Die Mehrheit der Ukrainer feiert dennoch vor allem das orthodoxe Weihnachten am 7. Januar. Beide Feiertage stehen jedoch im Schatten des Neujahres, das anders als in Westeuropa als wichtigstes Fest gilt.

Die Forderung, den Lockdown erst in die Zeit nach den Feiertagen zu vertagen, stammt ursprünglich von der Gastronomie-Branche. Vor dem Neujahr erzielt sie üblicherweise ihren größten Gewinn des Jahres. Die zahlreichen Firmenfeiern in der Woche vor dem 31. Dezember sind im postsowjetischen Raum eine feste Institution und werden groß geplant. Januar ist dagegen in der Regel ein schwacher Monat für ukrainische Gastronomen. Zwar wäre ein Lockdown auch dann nicht wünschenswert, aber dennoch viel lieber als direkt zu Neujahr. Außerdem tut Kiew den beliebten Skigebieten in der Westukraine einen Gefallen und lässt die Hotels auch während des Lockdowns offen, um die Hochsaison zu retten.

»Natürlich blicken wir auch auf die Wirtschaft. Die Grundlage unserer Entscheidungen bilden allerdings einzig wissenschaftliche Erkenntnisse«, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Ob die Zulassung einer großen, landesweiten Neujahrsparty etwas mit der Wissenschaft zu tun hat, lässt sich trefflich bezweifeln. Doch das Corona-Jahr in der Ukraine offenbart ein weiteres Problem: Wie sollen die Bürger ihrer Regierung glauben, wenn diese ihre Entscheidungen und ihre Strategie alle paar Wochen und oftmals grundlos ändert? Diese Frage bleibt bislang ohne Antwort.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.