- Berlin
- Jahresrückblick
»Die Story hat mich berührt und ermutigt«
Die Redakteurinnen und Redakteure des nd-Hauptstadtressorts stellen ihre besten Artikel des Jahres 2020 vor
Nicolas Sustr: Beschlagnahmt wegen Leerstand
Ein gelbes Haus in Berlin-Weißensee wurde Anfang 2020 wohnungspolitisch zur kleinen Sensation: Denn das Gebäude wurde vom zuständigen Bezirksamt Pankow beschlagnahmt, weil die Wohnungen bereits seit den 90er Jahren leerstehen – ein Novum in der Berliner Stadtpolitik. Passiert ist das ganze schon 2019, im Januar dieses Jahres konnte ich die Geschichte im nd zuerst veröffentlichen. Diese Exklusivität hat mir, wie wohl jedem Journalisten, gefallen. Der Artikel hatte auch eine große Resonanz. Erstaunlich fand ich, dass der Bezirk mit diesem Erfolg nicht von sich aus an die Öffentlichkeit gegangen ist und dass über acht Monate davon nichts nach außen gedrungen ist.
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Tomas Morgenstern: Unter Corona-Verdacht
Ich hatte schon am 11. März über den ersten Corona-Massenverdacht in einer Stadt in Brandenburg berichtet und war einige Tagen später, etwas beklommen und erst, nachdem ich mich mit einigen Ansprechpartnern verabredet hatte, hingefahren. Die Leute vor Ort waren genauso verunsichert wie ich: Keiner konnte sich wirklich vorstellen, was diese Pandemie für jeden von uns bedeuten würde. Schon gar nicht konnte man damals mit einer derartigen zeitlichen Dimension rechnen. Unmittelbar nach Veröffentlichung des Artikels begann für mich die Arbeit unter Home-Office-Bedingungen, die bis heute anhält.
Marie Frank: Stein des Anstoßes
In einem Seniorenwohnheim in Pankow steht seit wenigen Jahren ein geschichtsrevisionistisches Denkmal – mit überdimensionalem Stahlhelm und altdeutscher Schrift. Ich fand diesen Fall spannend und habe mich ein wenig auf Spurensuche begeben: Es ist krass, wie viel NS-Symbolik man überall in der Stadt noch findet und wie diese teilweise auch unhinterfragt zum Alltag gehört. Schön war aber, dass ich das Gefühl hatte, dass durch meine Recherche auch etwas in Bewegung kommt, weil die ganzen Bezirkspolitiker total schockiert waren, das nicht auf dem Zettel hatten und sich um die Beseitigung kümmern wollten – so zum Beispiel beim Friedhof Wilmersdorf.
Martin Kröger: Die Feindesliste lag im Papierkorb
Ein Hauptverdächtiger in der rechtsextremen Terrorserie in Neukölln sammelt Daten von 500 Antifaschist*innen, Politiker*innen und Polizist*innen auf einer Festplatte. Obwohl der Datenträger bereits im Februar 2018 bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurde, entdeckte die Polizei die Feindesliste darauf erst im November 2019. Angeblich, weil sie den Datenträger nicht entschlüsseln hätte können. Doch dann kam raus: Es gab keine kryptografische Sicherung. Die Liste lag einfach nur im Papierkorb. Meine beiden Artikel zu dem Vorfall zeigen auf, wie skandalös und zugleich dilettantisch die Berliner Polizei mit den Daten von Betroffenen umgeht. Die Beamten waren nicht in der Lage, eine bei einer Razzia gefundene Festplatte vernünftig forensisch auszuwerten und die Betroffenen zu informieren. Dass dieselben Polizisten die Serie nicht aufklären können, verwundert da wenig.
Claudia Krieg: Massiver Vertrauensverlust
Am 13. Juni verhängte das Bezirksgesundheitsamt Neukölln gemäß einer »sozialräumlichen Eindämmungsstrategie« über knapp 370 Haushalte an sieben Standorten eine kollektive Quarantäne. Ich sprach daraufhin mit den Sozialarbeiter*innen, die die Familien betreuten, die nun auf engstem Raum ausharrten und nicht einmal ihr Treppenhaus betreten durften. Mein Text gibt vielleicht einen Hinweis darauf, wie sich strukturelle Diskriminierung in einer Krisensituation auswirken kann: unbeachtet einer größeren Öffentlichkeit erheben sich politische Verantwortungsträger argumentativ und bürokratisch über Menschen, deren Lebensrealität weder respektiert noch berücksichtigt wird – und die am Ende die Konsequenzen wie soziale Stigmatisierung tragen müssen.
Andreas Fritsche: Lehrlinge ziehen Lehren aus Geschichte
Ich schreibe generell gern über Themen aus den KZ Gedenkstätten, weil ich das für wichtig halte. Unter den vielen Beiträgen, die ich dazu im Verlauf meiner 22 Jahre beim nd geschrieben habe, gehört die Reportage über die 24 Berufsschüler, die im Oktober Teile der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen saniert haben, zu denen, die ich besonders gern geschrieben habe. Das Engagement der Lehrlinge, die die aufgrund von Corona menschenleere Gebäude renovierten, empfand ich als berührend und ermutigend.
Rainer Rutz: Die verfolgte Unschuld
Schon 2018 musste Hubertus Knabe als Chef der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen gehen. Er hatte über Jahre zugelassen, dass sein Vize junge Mitarbeiterinnen sexuell belästigt. Der Fall wurde zum Politikum. Im Februar 2020 setzte das Abgeordnetenhaus einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu der Sache ein. Ich habe mir seit der ersten Zeugenbefragung jede Sitzung zu Gemüte geführt. De facto war der Ausschuss ja von CDU, FDP und AfD ins Leben gerufen worden, um Hubertus Knabe zu rehabilitieren. Sitzung für Sitzung trat aber zunehmend und immer deutlicher das Gegenteil ein. Vorläufiger Höhepunkt war schließlich die Befragung des Zeugen Knabe selbst: Ein bizarrer Zweiteiler mit einem Egomanen in der Hauptrolle. Der Ex-Gedenkstättenleiter inszenierte sich an zwei Tagen stundelang als Opfer. Die Opposition hat das nicht abgehalten, dem Untersuchungsausschuss eine dreimonatige Verlängerung zu spendieren. Kost ja nix...
Mascha Malburg: Weihnachten im Knast
Mitten in Berlin liegt ein Ort, an dem niemand Corona hat, wo aber trotzdem der härteste Lockdown gilt: Mitte Dezember habe ich den Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Moabit getroffen. Pfarrer Lehmann, der von allen nur Leh genannt wird, arbeitet seit zehn Jahren in dem einzigen Raum der JVA, der keine Metalltür hat - allein die Gitter vor den drei hohen Fenstern seiner Kapelle erinnern daran, dass die Besucher nach seinem Gottesdienst nicht nach Hause gehen, sondern in ihre Zellen zurückkehren. Leh hat an der FU Theologie studiert und nebenbei Häuser besetzt. Diesen scheinbaren Gegensatz löste er mit einer marxistischen Auslegungen der Bibel. Im Gespräch hat er mir verraten, warum sogar die Weihnachtsgeschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist.
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