Bitte nicht noch mehr Touristen

In den Ostseebädern Schleswig-Holsteins macht man sich Gedanken über die Zeit nach Corona

  • Dieter Hanisch, Kiel
  • Lesedauer: 4 Min.

Langsam schafft es die Lebensphilosophie der Nachhaltigkeit auch beim Tourismus Einzug zu halten. Auf Schleswig-Holsteins Inseln und in den Küstenorten an Nord- und Ostsee gibt es immer mehr Stimmen, die für ein Ende unbegrenzter touristisch boomender Spitzen plädieren.

Schleswig-Holstein gehört zu den Bundesländern, für die Tourismus einen sehr wichtigen Wirtschaftsfaktor ausmacht. Die Corona-Pandemie mit den verfügten Reisebeschränkungen und Übernachtungsverboten stellt somit einen gravierenden Einschnitt dar. Allerdings hatte sich der diesjährige Sommer mit seinem Trend zum Inlandurlaub positiv entwickelt, was viele Reiseziele mit überfüllten Stränden und Fußgängerzonen zu spüren bekamen. Bereits im Mai und Juni meldete das »Tourismusbarometer« der Sparkassen für einige Orte im Norden eine Verdopplung der Übernachtungszahlen.

Einbruch des Reisesektors

Vom »Jahr mit den größten Herausforderungen in der Geschichte des Tourismus« spricht die Welttourismusorganisation mit Blick auf die Folgen der Coronakrise. Auch wenn die UN-Institution bereits im März ein Krisenkomitee einrichtete, bleibt ihr kurz vor Jahresende nur zu konstatieren: Der Tourismus ist in diesem Jahr um 70 Prozent eingebrochen.

In manchen Weltregionen kam der Reisesektor sogar praktisch ganz zum Erliegen. Für die UN-Institution gibt es aber auch Lichtblicke: Die vielfältige Branche sei geschlossen aufgetreten beim Umgang mit Covid-19. Das Krisenkomitee habe zudem den Regierungen die Bedeutung des Sektors für Arbeitsplätze deutlich gemacht und sei »darauf ausgerichtet, den Neustart des Tourismus zu beschleunigen«.

In Deutschland wird für 2020 mit einem Umsatzrückgang um 60 Prozent gerechnet. Das Vorkrisenniveau könnte laut Prognose erst 2024 wieder erreicht sein. Verstärkt wurde dagegen der Trend zu Buchungen im Internet. Das Erliegen internationaler Reisen wurde durch deutsche Touristen teilweise wettgemacht. Und es gibt einen Trend weg von Großhotels hin zur Ferienwohnung, die gemietet, aber auch gekauft wird - auch wenn sich das nicht viele leisten können. KSte

Mittlerweile macht Kritik am »Overtourism« nicht mehr nur in Dubrovnik oder Venedig die Runde, sondern längst auch auf Sylt oder in Travemünde. Der Begriff beschreibt das Entstehen offener Konflikte zwischen Einheimischen und Besuchern an stark besuchten Reisezielen. Einige regionale Tourismuszentralen wollen daraus ihre Lehren ziehen und Besucher nicht mehr um jeden Preis anlocken. Plötzlich hört man neue Töne: Es solle verstärkt in touristische Qualität statt in Quantität investiert werden.

Die Sylt Marketing GmbH (SMG) hat 18 000 Bürger mit Erstwohnsitz auf der Insel dazu befragt. 4500 machten mit. Zwei Drittel von diesen beklagten, es gebe zu den Spitzenzeiten zu viele Touristen auf der Insel und monierten zugleich eine viel zu starke Abhängigkeit vom Tourismus. SMG-Chef Moritz Luft will auf Grundlage der Umfrage nun einen neuen touristischen Kurs erarbeiten, mit einer Balance zwischen Heimat- und Urlaubsinsel. Ein schwieriges Unterfangen, denn im Hochsommer tummeln sich mittlerweile täglich 150 000 Menschen auf Sylt.

Die SMG hat den Sommer selbstkritisch bilanziert: »zu viel, zu voll, zu laut, zu fremdgesteuert.« Entschleunigung und weniger neue Bauprojekte, damit kann sich Birte Wieda, Goldschmiedin aus Keitum, anfreunden. Sie hat im Juli die Initiative »Merret reicht’s« gegründet, benannt nach Sylts Ur-Einwohnerin Merret Lassen, die Anfang des 19. Jahrhunderts lebte. Mittlerweile engagieren sich über 100 Mitstreiter in der Initiative. Maike Lappoehn von der Naturschutzgemeinschaft Sylt sieht das ähnlich: »Die Wachstumsgrenze für den Tourismus ist erreicht.« Beide Bürgerinitiativen wollen eine Trendumkehr.

Zudem fordert die Wählerbewegung »Die Insulaner« ein Moratorium für touristische Bauprojekte und ein Einfrieren der Gästebettenzahl auf dem derzeitigen Stand. Ihr Sprecher Markus Gieppner, dem die Bedeutung des Tourismus für die lokale Wertschöpfung bewusst ist, warnt im nachhaltigen Sinne: »Wir dürfen nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.« Sprich: Wenn auf noch mehr Massentourismus gesetzt wird, leiden die Qualität und letztlich auch die Einnahmen.

Ein weiteres Ärgernis: Die Zahl der Ferienbehausungen wächst seit Jahren, während die Einheimischen kaum noch bezahlbaren Wohnraum finden. Dies gilt mittlerweile nicht nur für das exorbitant teure Sylt, sondern auch für das Ostseeheilbad Scharbeutz (Kreis Ostholstein). »Von 7700 Wohnungen sind 5500 Zweit- und Nebenwohnungen«, erläutert die parteilose Bürgermeisterin Bettina Schäfer. Immobilienmakler Leo Möllerherm berichtet von weiter steigendem Interesse an Baugrundstücken und Wohnungen. Die Nachfrage von Investoren sei weit höher als das Angebot. Ähnliches gilt für Heiligenhafen, Grömitz, Sierksdorf oder Travemünde. Tourismusminister Bernd Buchholz (FDP) weiß von zahlreichen Interessenbekundungen für neue Hotelbauten. Allein für den Sylter Ortsteil Westerland liegen laut Aktivistin Wieda fünf neue Hotelprojekte fertig in der Schublade. Im Kreis Ostholstein, zu dem auch die Insel Fehmarn gehört, könnten mehrere neue Bettenburgen mit rund 1000 Zimmern entstehen.

In Großenbrode am Fehmarnsund hat ein bevorstehender Bürgerentscheid die Gemeindevertretung in der Adventszeit zum Umdenken gebracht. Dort wurden Pläne für einen Hotelneubau für zwei Jahre auf Eis gelegt. Gewonnene Zeit, die Lage neu zu bewerten, so der Tenor. Einen Bürgerentscheid könnte es bald auf Fehmarn geben. Gegen ein geplantes Hotel auf dem Gelände eines früheren Schullandheims am Meeschendorfer Strand werden noch bis Jahresende Unterschriften gesammelt.

Auch im Ostseebad Eckernförde ist das touristische Maximum nach Ansicht von Stefan Borgmann erreicht. Der Leiter der städtischen Touristik & Marketing GmbH verzeichnet 2020 trotz Corona ein Buchungsplus bei Übernachtungen von sieben Prozent. Jedes Jahr neben den Übernachtungsgästen auch noch zwei Millionen Tagesbesucher - bei vielen Eckernförderern sei die Akzeptanzgrenze erreicht. Borgmann setzt daher auf kleinere Events. Auch die Kommunalpolitik reagierte vor einigen Wochen: Ab 2022 dürfen keine Kreuzfahrtschiffe mehr in der Eckernförder Bucht ankern; Hauptargument war der Klima- und Umweltschutz.

Die Probleme touristischer Hotspots sind natürlich nicht auf die Ostseebäder beschränkt, worauf Birte Grimm vom Kieler In-stitut für Tourismus und Bäderforschung in Nordeuropa hinweist. Ihre Erkenntnis: Je höher die Bedeutung des Tourismus für einen Ort sei, »desto höher ist der Anteil derjenigen, der sagt, es sei ihnen zu viel«.

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