Sweet home Apotheke

Ein neues Gesetz schwächt DocMorris und Co. - auch zulasten ärmerer Kranker

  • Riccardo Altieri
  • Lesedauer: 5 Min.

In den ersten Tagen des neuen Jahres dürften viele Menschen in Deutschland eine überraschende Nachricht erhalten haben: Sofern sie regelmäßig auf Medikamente angewiesen sind und diese für gewöhnlich über eine Online-Apotheke bestellen, wird der ungewöhnlich hohen Rechnung ein Begleitschreiben beigelegen haben, aus dem hervorgeht, dass die sogenannten Rx-Boni nicht mehr ausgezahlt werden dürfen. Dazu hat die Bundesregierung ein neues Gesetz erlassen.

Inmitten der zweiten Covid-Welle, als es überall nur um die neuen Schutzmaßnahmen ging, hat der Bundestag am 29. Oktober 2020 das sogenannte Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) beschlossen, das zum 15. Dezember in Kraft trat. Mit Sätzen wie »Die Apotheke vor Ort ist für viele Menschen ein Stück Heimat« betreibt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in erster Linie Identitätspolitik. Stadt und Land sollen gleichermaßen gestärkt werden, in dem es Online-Apotheken verboten wird, Rabatte auf rezeptpflichtige Medikamente an die Kundinnen und Kunden weiterzugeben. Gründe für die vermeintlich notwendig gewordene Stärkung der Vor-Ort-Apotheken sei die »fachkundige Beratung und zuverlässige Versorgung« - eine zentrale und selbstverständliche Aufgabe einer jeden solchen Einrichtung, auch schon vor diesem Gesetz.

Bis Ende 2020 war es Menschen möglich, ihre Rezepte an eine der großen europäischen Online-Apotheken zu senden, woraufhin ihnen die sogenannten Rx-Boni zuerkannt wurden. Das hatte zur Folge, dass sie beispielsweise, statt eine Rechnung von 35 Euro für sieben Arzneimittel zu erhalten, gänzlich ohne Kosten auskamen. In einer Vor-Ort-Apotheke hätten die gleichen Medikamente womöglich sogar noch mehr gekostet. Nun muss durchaus erwähnt werden, weshalb die Online-Anbieter so viel günstiger als ihre lokalen Konkurrenten sind: Seit 2004 ist es möglich, Arzneimittel über das Internet zu beziehen. Im Jahr 2019 waren rund 3000 der ca. 19 000 Vor-Ort-Apotheken zusätzlich in den Versandhandel involviert. Patienten senden ihre Originalrezepte an das gewünschte Geschäft und erhalten ihre Medikamente via Post nach Hause. Seit 2016 hat der Europäische Gerichtshof die Festpreisbindung für verschreibungspflichtige Arzneien aufgehoben, wodurch sich der Preis oftmals deutlich nach unten entwickelt hatte - das kam den Kranken zugute. Leidtragende waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Online-Apotheken, die in den Niederlanden oder Belgien zum Teil mit Dumping-Löhnen abgespeist werden.

Ursprünglich wollten das Bundesministerium für Gesundheit sowie später auch CDU/CSU sowie SPD in ihrem Koalitionsvertrag den Online-Versandhandel von Medikamenten komplett verbieten. Auch die Linksfraktion äußerte sich in ähnlicher Weise (Antrag 19/9462 zum VOASG). Die Kritik am Versandhandel, der den anderen Apotheken als Konkurrent am Markt allzu mächtig gegenüberstünde, mündete letztlich im Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz. Grund hierfür waren primär die Rx-Boni.

Während die Versandapotheken zum Teil die Portokosten sowohl für den Rezept- als auch den Medikamentenversand übernommen hatten, räumt die Regierung den Vor-Ort-Apotheken nun die Möglichkeit ein, für »Wege des Botendienstes einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 2,50 Euro je Lieferort und Tag zu erheben.« Wieder sind die Patientinnen und Patienten die Leidtragenden. Die AfD forderte hierfür sogar einen Pauschalbetrag von 5 Euro je Lieferung.

Schon im Oktober 2020 hatten Gesundheits- und Sozialexperten inhaltliche und rechtliche Vorbehalte gegen das VOASG geäußert: Es sei »europarechtlich riskant«. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) stellte fest, dass das Gesetz die »erhebliche Gefahr« berge, mit dem Europarecht nicht vereinbar zu sein. So sehen das auch die großen Online-Apotheken, die den freien Wettbewerb behindert sehen und angekündigt haben, das Ganze europarechtlich überprüfen zu lassen. Bis ein Entschluss gefällt wird, können den Patientinnen und Patienten die Rx-Boni zwar nicht gewährt werden, aber sie erhalten teils virtuelle Ausgleichszahlungen, die beim Kauf nichtverschreibungspflichtiger Medikamente angerechnet oder ab einem bestimmten Wert quartalsweise ausgezahlt werden können.

Bisher erhielt man zu den Bestellungen bei Online-Apotheken zusätzlich zur obligatorischen Packungsbeilage noch eine oder mehrere Din-A-4-Seiten mit wichtigen Informationen, die beispielsweise Wechselwirkungen oder spezielle Nebenwirkungen bei der Einnahme kritischer Lebensmittel enthielten (z. B. bei Grapefruits und Statinen). Diesen Service und vergleichbare Beratungsangebote sollen Vor-Ort-Apotheken gemäß VOASG künftig ebenfalls anbieten, allerdings dürfen sie pro Medikament und Beratung eine Pauschale von 20 Cent erheben. Erneut sind die Leidtragenden die Erkrankten, insbesondere Gering- oder Nichtverdienende.

Der AOK-Bundesverband kritisierte, »dass Versichertengelder nicht zur Qualitätsverbesserung beitrügen, sondern nur zu einem weiteren finanziellen Standbein für einzelne Apotheken« würden. Bisher ist es allen gesetzlich Versicherten möglich, Ausgaben für Medikamente ab einem bestimmten Wert von der Kasse zurückerstattet zu bekommen. Bei chronisch Kranken betrifft das Ausgaben für Rezeptgebühren, die einen Wert von einem Prozent des zu versteuernden Jahreseinkommens überschreiten. Für alle anderen Erkrankten gilt das für Ausgaben über zwei Prozent. Hier sind übrigens auch Kosten für stationäre Behandlungen sowie Zuzahlungen bei Heilmitteln und häuslicher Pflege inbegriffen.

Die Zahl der Vor-Ort-Apotheken ist seit Jahren rückläufig. Mit der Einführung des geplanten E-Rezeptes könnten sich die Marktanteile weiter zugunsten der Online-Apotheken verschieben, so das »Handelsblatt«. Das Hauptziel der Bundesregierung und ihres Gesetzes, also die Medikamentenversorgung auf dem Land zu verbessern, wäre damit noch mehr konterkariert. Insbesondere im ländlichen Raum profitiert man längst von Versandapotheken - nur neuerdings nicht mehr von den Rx-Boni.

Eingedenk sämtlicher zusätzlicher Bürden, die mit der Corona-Pandemie auf die Armutsklasse zugekommen sind - seien es Kosten für Masken, Handschuhe, Desinfektionsmittel oder die Gefahr des Arbeitsplatzverlustes, Kurzarbeit, erhöhte Strom- und Heizkosten durch Tätigkeit im Homeoffice usw. - ist das VOASG in erster Linie ein Katalysator der Klassengesellschaft: So begrüßenswert der Einschnitt bei Milliardenkonzernen wie DocMorris, Shop Apotheke und Co. auch sein mag, deren Angestellten hilft das Ganze ebenso wenig wie den Patientinnen und Patienten in Deutschland, die mit geringen finanziellen Mitteln auskommen müssen. Die einzigen Gewinnerinnen dieser Entwicklung sind die gut situierten Vor-Ort-Apotheken, die diese Unterstützung gar nicht bräuchten. Den schlechter laufenden Filialen wiederum hilft das Gesetz auch nicht aus der Krise.

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