Wie verlässlich ist Ankara als Speerträger?

Die Türkei stellt am Januar die Very High Readiness Joint Task Force der Nato und erweckt bei Verbündeten Argwohn

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Potente Nato-Staaten übernehmen abwechselnd die Leitung der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF). Polen führte sie im Jahr 2020, davor waren Deutschland und Italien dran. Die Aufstellung so einer Truppe war auf dem Nato-Gipfel 2014 in Wales beschlossen worden. Offiziell reagierte man damit auf die Besetzung der zur Ukraine gehörenden Krim-Halbinsel durch Russland. Man wollte Bündnispartner im Osten beruhigen und zugleich weiteren Druck gegen Moskau aufbauen. Allerdings machte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mehrfach klar, dass es auch zu Einsätzen an der Südflanke des Bündnisses kommen könnte. Egal wo auf der Welt, die Speerspitze soll innerhalb von 48 bis 72 Stunden an jedem Ort der Welt kampfbereit sein.

Am 1. Januar 2021 übernahm nun die türkische Armee den Befehl. Kern der aktuellen Speerspitze ist die 66. Mechanisierte Infanteriebrigade. Sie musste ein umfangreiches Zertifizierungsprogramm durchlaufen, in dem ihre militärischen Fähigkeiten geprüft wurden. Höhepunkt war im Oktober 2020 die Übung »Anatolian Caracal 2020«.

Ohne Zweifel, die rund 4 200 Soldaten sind gut ausgebildet und ausgerüstet. Die Türkei hat zudem einiges investiert, damit die Truppe bei Freund und Feind einen schlagkräftigen Eindruck hinterlässt. Insbesondere die Logistik und die Ausstattung mit Munition aller Art wurden verbessert. Zugleich hat man die VJTF-Brigade mit neuesten Kampffahrzeugen, Panzerabwehrmitteln und Artilleriegeschützen verstärkt. Dem Verband sind Soldaten aus Albanien, Großbritannien, Italien, Lettland, Montenegro, Polen, Rumänien, der Slowakei, Spanien, Ungarn und den USA zugeteilt. Alles in allem besteht die VJTF aus 6 400 Soldaten. Die Verpflichtung zur Führung der VJTF bindet alliierte Streitkräfte jeweils für drei Jahre. Im ersten Jahr wird die Bereitschaft der vorgesehenen Einheiten hergestellt. Dann beginnt für ein Jahr die »heiße« Phase. Im Jahr darauf steht man wieder als Reserve bereit.

Diese Drei-Jahresfristen werden im Bündnis gemeinsam geplant. Es ist also keine Überraschung, dass die Türkei 2021 dran ist. Doch die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist nicht irgendein Bündnisstaat. Mehrere Nato-Mitgliedsstaaten betrachten die Betrauung der Türkei mit der VJTF-Führung daher mit gemischten Gefühlen. Es fehlt an Vertrauen. Man nimmt Ankara die partielle Annäherung an Moskau übel. Besonders der Kauf russischer Waffen kam im Bündnis nicht gut an. Nachdem die Türken das russische Luftabwehrraketensystem S-400 in Stellung brachten, schloss Washington Ankara aus dem US-Kampfjetprogramm zum Bau des Stealth-Kamfjets F-35 aus.

Die Türkei brüstet sich dagegen mit ihrer Unabhängigkeit im Rüstungssektor. Das mag man belächeln, doch dass Ankara auch sicherheitsstrategisch Übermut beweist, ärgert die Nato-Planer sehr. So hat die Türkei einen gemeinsamen Verteidigungsplan für die osteuropäischen Nato-Mitgliedsländer politisch blockiert, mit dem die Allianz Russland wegen der Krim-Annektion strafen wollte. Erdoğan forderte die Verbündeten auf, zunächst einmal die kurdischen Milizen PYD und YPG als Terrororganisationen einzustufen und die von der Türkei damals bereits eingeleitete Militäroffensive im Norden des Iraks zu unterstützen.

Auch wenn die Türkei die politische Blockade des Nato-Verteidigungsplans inzwischen aufgegeben hat, so spielte die partielle Kooperation des Landes mit Russland Moskau beim Versuch in die Hände, den Zusammenhalt des Nato-Bündnisses auch im östlichen Mittelmeer zu schwächen. Dort schürt die Türkei seit einiger Zeit wieder sehr aggressiv den schon traditionellen Konflikt mit dem Nato-Partner Griechenland. Und legt sich dabei mit weiteren Nato-Staaten an.

Insbesondere Frankreich, das aus durchaus egoistischen Mittelmeerinteressen aufseiten Griechenlands steht, empört sich. Bei der EU-Blockade-Operation »Irini«, die zur Eindämmung des Libyen-Konflikts eingerichtet und von der Uno mandatiert ist, kam es im vergangenen Jahr zwischen einer türkischen und einer französischen Fregatte zu einem gefährlichen Zwischenfall. Auch eine für »Irini« fahrende deutsche Fregatte kam in Konflikt mit einem türkischen Waffenschmugglerschiff. Öffentlich wurde der Streit unter den Brüsseler Teppich gekehrt. In Berlin hat man kein Interesse daran, die Türkei gegen sich aufzubringen - zumindest solange das Land Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen, einsperrt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den nur oberflächlich entschärften Streit mit der Türkei schon mehrfach zum Anlass genommen, den Wert der gesamten Nato infrage zu stellen. Angesichts so vieler Differenzen fragen sich Nato-Diplomaten auch jetzt, ob die Türkei als VJTF-Führungsnation wirklich ein zuverlässiger Partner ist. Deutschland soll 2023 abermals die Verantwortung für die Speerspitze übernehmen. Im kommenden Jahr wird die Panzergrenadierbrigade 37 »Freistaat Sachsen« in Bereitschaft versetzt.

Unterdessen traf Bundesaußenminister Heiko Maas am Montag seinen türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu in Ankara, um zwischen der Türkei und Griechenland wegen Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer zu vermitteln. Maas sagte, er begrüße die Wiederaufnahme der bilateralen Sondierungsgespräche zwischen Ankara und Athen kommende Woche »ganz ausdrücklich«. Die »Entspannungssignale« würden in Europa »sehr intensiv registriert«. Cavusoglu warf Griechenland aber erneut vor, die Türkei unter anderem mit militärischen Übungen zu provozieren. Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss, fordert indessen eine klare Haltung Deutschlands: »Die Bundesregierung darf den Erdgasstreit im Mittelmeer nicht länger durch Waffenlieferungen an die Türkei befeuern.«

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