Eine Wiederaneignung

Die Soziologin Nina Degele bekennt sich offensiv zu Politischer Korrektheit

  • Quintin Copper
  • Lesedauer: 6 Min.

Frau Degele, jüngst ist Ihr Buch über »Political Correctness« erschienen. Was ist das?

Political Correctness ist Handeln und Sprechen, das darauf abzielt, ausgegrenzte oder wenig gehörte Gruppen anzuerkennen. Es ist auch eine Reflexion eigener Privilegien. Das, was wir tun, ist nicht für alle selbstverständlich und hat nicht für alle die gleichen Konsequenzen. Wenn Sie in Freiburg durch die Straßen gehen, würden Sie nicht auf die Idee kommen, wie schwierig das für Leute mit Gehbehinderung ist. In unserer privilegierten Situation sind wir mit bestimmten Erfahrungen nicht konfrontiert.

Nina Degele,

Nina Degele, 1963 in Ulm geboren, ist seit 2001 Professorin für Soziologie und empirische Geschlechterforschung an der Universität Freiburg. Sie hat viel gelesene Einführungen in die Gender- und Queer-Studies sowie Intersektionalität verfasst. Quintin Copper sprach mit ihr über ihr jüngstes Buch - »Political Correctness - warum nicht alle alles sagen dürfen«.

Und seit wann ist das ein Thema?

Inhaltlich entstanden ist der Ausdruck in den USA im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 1970er Jahre, als es darum ging, dass ausgegrenzte Gruppen, vor allem Schwarze Menschen und später Frauen, ein Anrecht auf Gleichberechtigung - nicht Sonderrechte - haben. Der Begriff selbst ist erst Anfang der 1990er Jahre populär geworden. George Bush - der US-Präsident von 1989 bis 1993 - hat in einer Rede mit dem Begriff »Political Correctness« die Linke denunziert: Sie spalte die Gesellschaft und verbreite Intoleranz. Das Aufmerksammachen auf fehlende Rechte ist von ihm interpretiert worden als Aufruf dazu, Sonderrechte einzufordern. In den USA ist der Begriff 1990 durch einen Artikel von Richard Bernstein bekannt geworden und dient seither vor allem als Kampfbegriff gegen die Linke.

Der Ausdruck war schon immer eine Polemik gegen emanzipatorische Bestrebungen?

Anfangs wurde der Begriff an US-amerikanischen Universitäten auch von Linken verwendet, eher ironisch in Bezug auf sozialistische und kommunistische Kader, die 150-prozentig auf Parteilinie waren - das war »politically correct«. Anfangs war das ein Adjektiv. Es ist dann von konservativer, rechter Seite instrumentalisiert worden und wurde ein Substantiv, ein Ding und eine vermeintliche Bewegung, was es nie war. Damit ist der »Tatbestand« geschaffen worden, der von Anfang an damit gleichgesetzt worden ist, dass nämlich Political Correctness ein Angriff auf die freie Rede sei.

Sollte man den negativen Ausdruck - Sie nennen es »Stigmawort« - nicht fallen lassen?

Ich plädiere tendenziell dafür, den Begriff zu verwenden, und zwar im Sinne einer Wiederaneignung. Vielleicht gerade weil er gekapert wurde. Es geht darum, das emanzipatorische Potenzial, vor allem den Aspekt der Reflexion der eigenen Privilegien, mit aufzunehmen. Das geht mit anderen Begriffen schlechter.

Ihr Untertitel lautet »Warum nicht alle alles sagen dürfen«. Genau das ist ja der Vorwurf.

Freie Rede ist, was nicht strafrechtlich relevant ist. Der ironische Unterton ist hier eine Referenz an die Geschichte von Political Correctness. Natürlich darf man alles sagen, was nicht strafbar ist. Aber es geht ja bei Political Correctness um Grauzonen. Ich komme nicht ins Gefängnis, wenn ich das N-Wort benutze, aber es ist trotzdem eine Beleidigung.

Dennoch greifen Sie einen Streitbegriff auf.

Es ist richtig, dass »PC« ein Streitbegriff ist. Aber wenn wir dem Streit aus dem Weg gehen wollen, gehen wir der Sache aus dem Weg. Dann akzeptieren wir, dass es in Ordnung ist, wenn manche Leute die Definitionsmacht darüber haben, wie über andere geredet wird, und dass sie darüber entscheiden, ob sich andere etwa bei der Verwendung rassistischer Begriffe beleidigt fühlen dürfen oder nicht. Es sind grundlegende Aspekte, die da verhandelt werden müssen. Mich erinnert das etwa an die Wiederaneignung von einem Begriff wie »queer«. Das war auch einmal ein negativer Begriff: »seltsam«, »merkwürdig« oder »störend«. Den hat sich die Schwulen-, Lesben- und Transbewegung in den 1980er Jahren aber positiv angeeignet. So sollte es auch mit Political Correctness gehen.

Der Duden bietet jetzt das Gendern als Option. Erwartbar gab es viel Widerspruch - aber von »Political Correctness« hörte man wenig. Gibt es jetzt neue Chiffren?

Gut möglich. Die Sache ist aber weiter virulent. Medien benutzen den Begriff weiterhin, die AfD sowieso: »Political Correctness gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.« Aber es stimmt, andere Begriffe wie »Cancel Culture« rücken nun auch in den Mittelpunkt beim Streit um die selbe Sache. Es verändert sich etwas, und das ist auch gut so. Es ist ein Unterschied, ob das Gendern im Duden kritisiert wird oder bei feministischen Zirkeln. Mit dem Duden lässt es sich nicht mehr als militanter, ultrafeministischer Sprachgebrauch wegwischen.

Der Sprachgebrauch ist das eine ...

Diese Debatte hat einen Effekt. Sie ist Grundlage dafür, dass etwas verändert werden kann. Ein Beispiel: Bei Hausarbeiten an der Uni verlange ich, dass die Studierenden gendern. Vor 20 Jahren hat das ein halbes Semester gekostet, weil die das nicht eingesehen haben. Diesen Streit gibt es seit Jahren nicht mehr. Gendern ist jetzt akzeptiert. Bis vor fünf Jahren hatte ich als Professorin noch nie eine weibliche Kollegin gehabt, das kannte ich überhaupt nicht. Jetzt sind wir hier in Freiburg in der Soziologie zwei Professorinnen und die Uni hat eine Rektorin. Das war früher undenkbar. Das Reden bewirkt, dass überhaupt Denkräume geöffnet werden, dass Dinge selbstverständlicher werden, die dann auch einfacher umgesetzt werden können.

Wie unterscheidet sich die Chiffre Cancel Culture von Political Correctness?

Da gibt es viele Gemeinsamkeiten. Als sogenannte Cancel Culture wird der Umstand skandalisiert, dass Gruppen mit wenig gesellschaftlicher Durchsetzungsmacht durch die Sozialen Medien plötzlich eine Stimme bekommen und diese auch erheben. Das bekannteste Beispiel ist der Fall des Hollywoodproduzenten Harvey Weinstein, der Frauen vergewaltigt hat. Das öffentliche Anprangern seiner Handlungen schuf eine Plattform, so dass sich immer mehr Frauen getraut haben, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen. Das ist erst durch die Netzwerkmedien möglich geworden.

Sind diese Medien dabei nur positiv zu sehen?

Diese neuen Vernetzungsmöglichkeiten haben mitunter den Effekt, dass innerhalb der gesamten Gruppe mit eigentlich ähnlichen Zielen eine Art Wettstreit stattfindet, wer größeres Recht auf eine Plattform hat und gehört wird. Das sind Streitereien, die stattfinden, die auch ausgetragen werden müssen. Sie blockieren das ganze emanzipatorische Projekt nicht grundlegend. Aber leichter machen sie es nicht.

Gibt es deutsche Spezifika in der Debatte, die sich in den USA nicht in der Form finden?

Die Spezifika werden sehr deutlich, wenn man etwa auf die NS-Vergangenheit schaut. Der Umgang mit Sprache ist in dieser Hinsicht viel sensibler als in den USA. Als jetzt Trump-Anhänger versuchten, das Kapitol zu kapern, waren Leute mit »Camp Auschwitz«-T-Shirts dabei. Das wäre in Deutschland sofort strafbar, zum Glück.

Hierzulande verschiebt sich das aber auch.

Die Verwendung von rechter Sprache, die eigentlich immer noch tabuisiert ist, ist durch die AfD hoffähiger geworden. Da sind Nazis drin, da sind Rechte drin, die systematisch ausloten, was sagbar ist. Dadurch ist die öffentliche Debatte in den letzten Jahren nach rechts gerutscht. Das sind spezifisch deutsche Auseinandersetzungen, die damit verbunden sind. Deswegen denke ich, dass gerade Political Correctness mit der Aufforderung: »Guckt genau auf die Sprache, guckt, was ihr sagt«, wichtig ist. Denn Sprache hat Folgen. Wenn in Washington Trump sagt »We’re gonna walk down to the Capitol«, machen die Leute das tatsächlich. Fünf Tote waren die Folge.

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