Versammlungsfreiheit mit roten Linien

Rot-Rot-Grün stärkt und liberalisiert trotz des Rechtsrucks das Demonstrationsrecht in der Hauptstadt

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bilder von der Stürmung des Washingtoner Kapitols durch rechte Putschisten gingen um die Welt. Auch die Aufnahmen von Rechtsextremen mit Reichsflaggen auf der Treppe zum Deutschen Bundestag sind noch in schlechter Erinnerung. Trotz dieser aktuellen Ereignisse – oder gerade deswegen – will die rot-rot-grüne Koalition in Berlin jetzt eines der liberalsten Versammlungsgesetze in Deutschland schaffen. »Ja, die Demokratie steht durch die Angriffe von Rechtspopulisten und Corona-Leugnern unter Druck«, räumt der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Sebastian Schlüsselburg, gegenüber »nd« ein. Während Bundesländer wie Sachsen-Anhalt auf diese Entwicklungen aber mit Verschärfungen reagieren würden, setze Rot-Rot-Grün darauf, die Versammlungsfreiheit auszuweiten. »In Berlin gilt«, so Schlüsselburg, »im Zweifel für die Versammlungsfreiheit.«

An diesem Montag sollen letzte Änderungen im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses final beschlossen werden, die das neue »Gesetz über die Versammlungsfreiheit im Land Berlin«, wie es offiziell heißt, betreffen. Wenn der Ausschuss grünes Licht gibt, soll das Plenum des Abgeordnetenhauses das liberale Versammlungsrecht wohl am 11. Februar beschließen. Zuletzt hatten sich die Parlamentarier in einer Anhörung mit dem Gesetzesvorhaben beschäftigt, das für eine liberale rot-rot-grüne Innenpolitik stehen soll.

Neuerungen bei der Versammlungsfreiheit
  • Kleinstversammlungen (ab zwei Personen) sollen in Zukunft besser geschützt werden, genauso die freie Berichterstattung der Medien über Demonstrationen.
  • Die Verwaltung muss gewährleisten, dass der Zugang zu Versammlungen ungehindert stattfinden kann. Künftig gibt es ein Recht auf Gegenversammlungen in Hör- und Sichtweite beispielsweise bei Neonazi-Aufmärschen.
  • Das Deeskalationsgebot bei der Polizei wird gesetzlich fixiert und um das Gebot des Konfliktmanagements erweitert.
  • In Zukunft gibt es das Recht, eine Veranstaltung auch ohne einen öffentlich benannten Leiter abzuhalten, damit soll eine Offenheit für neue Versammlungsformen signalisiert werden.
  • Sogenannte Ordnerbinden müssen nicht mehr verpflichtend getragen werden.
  • Der Tatbestand der erheblichen Störungen wird aus dem Ordnungswidrigkeitskatalog gestrichen.
  • Demonstrationen werden künftig auf einem Open-Data-Portal angekündigt.
  • Das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung wird aus dem Gesetz gestrichen.
  • Vorgesehen ist zudem ein besserer Schutz für Menschen und Bevölkerungsgruppen, soweit deren Menschenwürde oder Opferstellung substanziell angegriffen werden oder diese in volksverhetzender Weise verletzt werden. mkr

Kernvorhaben des Gesetzes ist es, das Versammlungsrecht zu stärken. Diesem Zweck dienen eine ganze Reihe von Veränderungen (siehe Kasten). Sebastian Schlüsselburg: »Als erstes Bundesland schaffen wir ein gesetzliches Deeskalationsgebot für die Polizei und stellen klar, dass sie zur Kooperation mit den Demonstrierenden verpflichtet ist.« Neben einem ungehinderten Zugang zu Demonstrationen soll künftig zudem gewährleistet werden, dass Zivilpolizisten keine verdeckten Bild- und Tonaufnahmen von Demonstrierenden mehr machen. »Bundesweit einmalig wird das Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot eingeschränkt. Künftig ist nur noch die tatsächliche Verwendung der Gegenstände zu den verbotenen Zwecken verboten und nicht mehr das bloße Mitsichführen«, erläutert der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion.

Um zu protestieren oder Unterschriften für Volksbegehren zu sammeln, dürfen sich Menschen künftig zudem auch auf privaten Grundstücken wie Shopping Malls zusammenfinden. Neu ist auch, dass Demonstrationen vor dem Abgeordnetenhaus erlaubt werden, das Konzept der Bannmeile in seiner ursprünglichen Form gibt es nicht mehr. Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland (SPD), kann jedoch bei entsprechenden Vorerkenntnissen solche Versammlungen untersagen, bei denen davon auszugehen ist, dass eine Störung des Parlamentsbetriebs geplant wird. Die neuen Freiheiten gelten ohnehin nur, wenn die Demonstrationen friedlich ablaufen.

Bis in die vergangene Woche hinein hatten die Koalitionäre hart verhandelt, so ist zu hören. SPD, Linke und Grüne haben, was die Innenpolitik angeht, durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Doch mit der Schaffung eines neuen Versammlungsrechts löst Rot-Rot-Grün auch ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein. In dem hieß es: Die Koalition »wird ein Berliner Versammlungsgesetz erlassen, das als deutschlandweites Vorbild für ein demokratieförderndes und grundrechtsbezogenes Versammlungsrecht dienen kann«.

»Die Koalition verbessert mit kleineren Änderungsanträgen das Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz«, sagt Benedikt Lux, der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, zu »nd«. »Uns Grünen war wichtig, vor allem das Deeskalationsgebot noch verpflichtender in das Gesetz zu schreiben, aber auch Hass und Hetze leichter zu unterbinden.«

Angesichts der Bedrohungen für die Demokratie gibt es deshalb klare rote Linien. »Das Gesetz ist getragen von den Grundsätzen der Kooperation und Deeskalation. Aber es sieht auch die nötigen Maßnahmen gegen Gewalttäter oder Verfassungsfeinde vor«, sagt der Innenexperte der SPD-Fraktion, Frank Zimmermann. Es gehe um die richtige Balance zwischen Versammlungsfreiheit und Gefahrenabwehr. »Die Angriffe auf den Bundestag oder das Kapitol sind Mahnung genug«, betont Zimmermann.

Gewalt, Verherrlichung des Nationalsozialismus, Antisemitismus, Rassismus und Volksverhetzung werden in Berlin nicht toleriert. »Wenn die Versammlungsleiter so etwas nicht unterbinden, gibt es die Möglichkeit, Beschränkungen oder auch Verbote auszusprechen«, erklärt Sebastian Schlüsselburg. Ganz konkret kann im Vorfeld ein Versammlungsverbot erlassen werden, wenn hinter der Versammlung international oder national betriebene antisemitische Kampagnen stehen. Die Mitte-links-Koalition will so unter anderem in Zukunft leichter ein Verbot des sogenannten Al-Quds-Marsches ermöglichen, bei dem in Berlin in der Vergangenheit Antisemiten aus verschiedenen Milieus marschierten. Klar ist also: Das neue liberale Versammlungsrecht hat durchaus seine Grenzen.

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