Lehrreiche Niederlagen

Die jungen deutschen Handballer stehen bei der WM vor dem Aus.

  • Michael Wilkening , New Capital
  • Lesedauer: 5 Min.

Bundestrainer Alfred Gislason stand im Bauch der frisch aus dem Boden gestampften New Capital Sports Hall und gab sich keinen Illusionen hin. »Jetzt brauchen wir ganz viel Glück«, sagte der Coach der deutschen Nationalmannschaft. Der Isländer Gislason ist Handballlehrer und kein Freund der höheren Mathematik. Er wusste Donnerstag kurz vor Mitternacht, dass er mit seinem Team noch das Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft in Ägypten erreichen kann, aber ihm war gleichermaßen bewusst, dass fortan nicht nur die Ergebnisse seiner Mannschaft passen müssen, sondern zusätzlich auch die der Konkurrenten in der Hauptrundengruppe 1.

Gislason hatte gemischte Gefühle. Der erfahrene Trainer war stolz auf den Auftritt seiner Mannschaft, die gegen den Europameister Spanien lange Zeit ebenbürtig und in einigen Phasen sogar das bessere Team war. Der Frust nach der 28:32-Niederlage gegen die Iberer schlummerte aber ebenso in Gislason und die Aussicht, dass der Rückflug nach Deutschland am kommenden Dienstag wahrscheinlicher ist als eine Partie in den K.-o.-Runden dieser WM.

Nur mit zwei Siegen zum Abschluss der Hauptrunde an diesem Sonnabend gegen Brasilien und am Montag gegen Polen bleibt die theoretische Chance auf den Einzug ins Viertelfinale bestehen. Außerdem müssen die Polen am Samstag Ungarn schlagen, um das Tor für ein Entscheidungsspiel um das Viertelfinale aufzumachen. Sollte das passieren und Spanien am Montag gegen Ungarn gewinnen, käme es doch noch zu einem »Showdown« für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) - reichlich viel Theorie.

Sehr viel praktischer ist die Analyse der beiden Niederlagen des deutschen Teams, die für das Gefühlsallerlei bei Gislason sorgten. Sowohl gegen Ungarn (28:29) als auch gegen Spanien hatten die Deutschen in der zweiten Halbzeit das Momentum auf ihrer Seite, waren aber nicht abgebrüht genug, um ihre taumelnden Gegner konsequent weiter mit klugen Schlägen zu traktieren. Um in der Boxersprache zu bleiben, hing der Europameister bereits in den Seilen, ehe die Deutschen zurückwichen und dem Kontrahenten die Chance gaben, sich zu erholen.

»Wir haben zu schnell zu viele Fehler gemacht«, sagte Bob Hanning. Der Vizepräsident des DHB kündigte an, die Mannschaft »auf- und nicht hinrichten« zu wollen. Gleichsam war der Einbruch des Teams nicht zu übersehen, der ausgerechnet nach der besten Phase der Partie und einer 25:22-Führung folgte. Gegen clevere Spanier reichte es, etwas fahrlässig zu werden, damit die Iberer mit einem 6:0-Lauf innerhalb von sechs Minuten die Begegnung komplett drehen konnten. »Ich ärgere mich schwarz, weil wir uns selbst um diese Chance bringen«, sagte Gislason: »Wir haben die Spanier mit einer Superleistung an den Rand einer Niederlage gespielt.«

Aber eben nur an den Rand, weil die deutschen Spieler kopflos wirkten, als die Spanier in der Schlussphase ihre Routine ausspielten. Ganz ähnlich war es schon gegen Ungarn gelaufen, als es den Deutschen nicht gelang, die Überlegenheit in der zweiten Halbzeit auf der Anzeigetafel sichtbar zu machen. »Wenn man merkt, dass man an sich selbst gescheitert ist, tut das extrem weh«, sagte Timo Kastening am Freitag. Nach einer »kurzen Nacht, weil man viel nachdenkt«, hatte sich der Rechtsaußen mit den Kollegen darauf verständigt, mit Optimismus in die verbleibenden WM-Partien zu schauen, doch so ganz war der Ärger über die verpasste Gelegenheit vom Vorabend noch nicht aus den Gedanken gewichen.

Johannes Bitter ging es ähnlich. Der Torhüter, mit 38 Jahren der Senior im Team, glaubt weiter an die Chance aufs Weiterkommen: »Alles ist möglich - das hat es alles schon gegeben.« Partien wie gegen die Spanier hob er gleichzeitig auf eine höhere Ebene. »Die Erfahrungen, die man in diesem Spiel gemacht hat, kann man sich nirgends kaufen«, sagte der Schlussmann mit Blick auf all jene im deutschen Kader, die zuvor noch nie bei einer Weltmeisterschaft mitgespielt gespielt hatten. In der Tat können die zurückliegenden Begegnungen - aber auch die noch anstehenden - Akteuren wie dem 20-jährigen Juri Knorr helfen, in der Zukunft in wichtigsten Momenten eines Matches ruhiger zu agieren und bessere Entscheidungen zu treffen. Vielleicht bilden die Misserfolge in Ägypten den Nährboden für Erfolge in der Zukunft. Hanning, Bitter und viele im deutschen Tross glauben jedenfalls daran.

Für die Bewertung der Weltmeisterschaft aus deutscher Sicht wird viel davon abhängen, wie sich die Mannschaft in den beiden noch ausstehenden Partien präsentiert. Sollten nach den Niederlagen gegen Ungarn und Spanien weitere Rückschläge hinzukommen, wäre dies nicht mehr allein mit der personellen Situation zu erklären. Auch ohne Leistungsträger wie Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek, Steffen Weinhold oder Fabian Wiede steckt in der deutschen Mannschaft ausreichend Qualität, um Brasilien und Polen bezwingen zu können.

»Wir haben die Zielsetzung, olympisches Gold zu holen. Heute sage ich, dass ich ganz, ganz fest daran glaube, dass es funktionieren wird«, sagte Hanning am Abend der schmerzhaften Niederlage gegen Spanien. Er glaubt an die Leistungsfähigkeit der deutschen Mannschaft, wenn der Kader bei den Spielen im Sommer in Tokio wieder komplett ist und die jüngeren Akteure durch die Erfahrungswerte der WM in Ägypten einen Entwicklungsschritt gegangen sind. Der DHB-Vizepräsident hat den Glauben an das Erreichen des großen Ziels noch nicht verloren. Was die kurzfristigen Pläne bei der WM anbetrifft, sieht das vermutlich anders aus.

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