Kindheit hinter Stacheldraht
Tomáš Radil erzählt, worüber nach dem Krieg niemand sprechen wollte
Das Sammellager in der Tabakfabrik war von einem hohen Drahtzaun umgeben, den Polizeischüler bewachten. Es waren Jungen um die achtzehn, die von alledem noch nichts begriffen. Sie hatten den Befehl erhalten, niemand dürfe den Zaun passieren, weder hinaus noch hinein, und so bewachten sie uns. Sonst hatten im Lager die Gendarmen das Sagen. Großvater hatte uns schon im Zug nach der Abreise aus Parkan erklärt, dass er das Amt des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde aufgeben werde, dass es ihm bis zum Hals stehe, vor allem das, was er jetzt zum Schluss erlebt habe. In Wirklichkeit aber musste er diese Funktion behalten, die Gendarmen wussten, dass er sie in Parkan innegehabt hatte, und gleich nach der Ankunft in Levice riefen sie ihn heraus. Als er zurückkehrte, sagte er uns, die Gendarmen verlangten, wir sollten im eigenen Interesse selber unter uns Ordnung halten. Wenn sie eingreifen müssten, wäre das für uns schlechter, weil sie gezwungen wären, uns hart anzufassen, das hätten sie nicht gern und wir auch nicht. Gerade so hätten sie sich ausgedrückt. Und Großvater als Vorsitzender der Parkaner Juden sei persönlich dafür verantwortlich, dass es mit uns keine Probleme gebe. Sie eröffneten ihm auch, dass wir hier nur wenige Tage bleiben würden und man uns dann zum »Bestimmungsort« bringen werde. Ferner, dass wir in der Tabakdarre untergebracht würden und jede Familie möglichst wenig Raum beanspruchen solle, weil noch weitere eintreffen würden. Dann fragten sie ihn auf militärische Weise, ob er noch irgendetwas wissen wolle. Er erkundigte sich nach unserem Bestimmungsort und nach der Abfahrtszeit. Sie antworteten, zu einer Auskunft seien sie nicht befugt. Sie selbst würden ihn nicht kennen. Die Abfahrtszeit würden wir rechtzeitig erfahren, sobald sie ihnen mitgeteilt werde.
Unsere Familie hatte sich auf dem Betonfußboden eines der Abschnitte der Darre niedergelassen, ganz wie die anderen Familien aus Parkan und Umgebung. Aus dem Gepäck holten wir Decken und legten sie auf den Boden. Großvater sah müde aus, er schimpfte, das habe ihm gerade noch gefehlt, auch hier als Vertreter der Juden herzuhalten. Aber das sei ihm letztlich doch lieber, zumal es nur um ein paar Tage gehe, als mit den unbekannten Gendarmen in Konflikt zu geraten, die könnten uns allen nur schaden. Nicht einmal dabei konnte er sich mit seinen beliebten und saftigen Beschimpfungen und Flüchen ordentlich erleichtern.
Jungen auf einem Fußballplatz. Was hier gespielt wird, ist nicht Fußball, und der Platz ist in Auschwitz. Spaß bei diesem Spiel hat nur die SS: Wer mit dem Kopf die Latte berührt, darf noch etwas weiterleben. Wer zu klein ist, ist groß genug, um gleich zu sterben. Die Überlebenden, Kinder von 13, 14 Jahren, werden bald darauf ins »Zigeunerlager« in Birkenau gesteckt, benannt nach denen, die bis zu ihrer Ermordung im Sommer 1944 hier gefangengehalten wurden.
Was tun jüdische Kinder, die wissen, daß sie am nächsten Tag getötet werden? Sie ermessen die Aussichtslosigkeit. Sie reden miteinander. Sie beten das Kaddisch, das jüdische Totengebet, über Stunden. Die Kapos, Helfershelfer der Henker und selbst doch Juden, lassen es zu.
Tomáš Radil gehört zu den wenigen Jugendlichen, die Auschwitz überlebten und darüber berichten konnten. Von Selektionen, von Doktor Mengele, von Qualen. Aber wer wollte das hören? Als er nach der Befreiung zum Unglücksboten wird, der ungarischen Juden berichtet, wo ihre Familien geblieben sind, richtet sich deren Verzweiflung gegen ihn. Unter den Displaced Persons erkennt er einen Kapo, Mittäter aus dem KZ, und trifft auf Mitgefangene, die aus Angst vor dem NKWD ihre Identität verschleiern. Er springt aus einem anfahrenden Zug, als ihn Ungarn bedrohen: »Die Juden ins Gas!«. Erfährt, wie auch das Überlebthaben zu einer Last wird. Erlebt, wie sein Vater nach der Ermordung seiner Frau ein gebrochener Mann ist. Er befreit sich – wenn es das gibt – ein Leben lang davon, auch mit diesem Buch. Einem Bericht, in dem die Unmittelbarkeit des damaligen Erlebens sich mit seinen heutigen Reflexionen verbindet. Es ist seine Geschichte davon, »wie mich Zufall, Solidarität und Lebenswille gerettet haben«.
Wir hatten einen schweren Tag hinter uns und legten uns bald hin. Wir deckten uns zu. Obwohl es in der Darre stark zog, überstanden wir die Nacht, ohne zu frieren. Morgens schwärmten wir alle aus, um die Toiletten aufzusuchen, reckten uns etwas, wuschen uns und brachten Trinkwasser herbei. Unsere Sachen ließen wir liegen, wo sie waren. Dann bewirtete uns Großmutter aus den Vorräten, die wir von Zuhause mitgebracht hatten. Vormittags wollte ich durch das Lager gehen, um eine Vorstellung von ihm zu gewinnen. Unterwegs traf ich fast keine Bekannten. Die meisten Leute hier waren nicht aus Parkan. Auf einmal aber stieß ich auf Olga Kohn. Freundschaftlich lachte sie mir zu. »Du siehst nachdenklich aus und nimmst niemanden wahr.« Ich darauf: »Dich übersehe ich nicht!« »Ich weiß«, antwortete Olga. »Du hattest mir doch gesagt, dass ich dir gefalle.«
Ich verabschiedete mich von Olga und ging dicht am Zaun weiter, um die Umgebung zu betrachten. Ein paar Meter vom Eingangstor brüllte mich plötzlich einer der Polizeischüler an, die uns bewachen sollten, in der Hand eine Maschinenpistole, und befahl: »Stehen bleiben! Hände hoch! Noch höher über den Kopf! Stell dich mit der Stirn zum Zaun und beweg dich nicht! Was machst du hier am Zaun?« Ich antwortete, ich ginge nur so spazieren. »Du wirst hier so lange stehen, bis du zugibst, was du machst! Und hau nicht ab, versuch’s ja nicht! Vergiss nicht, ich stehe hinter dir mit der scharfen MP im Anschlag!« Ich sagte ihm, dass ich nichts Schlechtes getan hätte. So ging es noch ungefähr zehn Minuten weiter. Dieser Blödmann übte an mir wohl den letzten Stoff von der Polizeischule über das Unschädlichmachen von Spionen. Es war kein Spaß, vor einer Maschinenpistole in der Hand eines Idioten zu stehen, der auf meinen Rücken zielte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Noch schlechter war, dass ich keine Idee hatte, wie diese Übung zu beenden wäre. Wenn er mich jetzt einfach laufen ließe, würde er zugeben, dass er eine Dummheit gemacht hatte.
Da erspähte ich aus einem Augenwinkel Großvater mit seinem gezwirbelten Bart und der weißen Armbinde, wie er sich vom Tor her näherte. Großvater kam heran und erklärte energisch: »Ich bin Feldwebel des fünften Husarenregiments Radetzky, ausgezeichnet mit dem Orden Signum laudis und der großen silbernen Medaille. Ich bin der Anführer der Juden aus Parkan. Dieser Junge gehört zu uns. Was hat er angestellt?« »Er hat hier am Zaun herumgetrödelt.« Großvater schrie den Polizeischüler an: »Stehen Sie gerade, wenn ich mit Ihnen spreche!« Der Polizeischüler schlug die Hacken zusammen, und Großvater fuhr fort: »Seit wann erschreckt ein ungarischer Gendarm mit geladener Maschinenpistole kleine Kinder? Ich komme gerade von Ihrem Kommandeur, ich müsste dorthin zurückkehren und ihn darüber informieren, was Sie hier treiben! Augenblicklich lassen Sie diesen Jungen passieren! Ich werde ihn mir schon vorknöpfen.« Daraufhin wartete ich nicht mehr ab und ging zu Großvater, der befahl: »Vorwärts, Marsch!« Ich marschierte in Richtung Unterkunft und Großvater im Abstand von zwei Metern hinter mir. Sobald wir um die Ecke und außer Sichtweite dieses Strebers waren, wurde Großvater langsamer. Er fragte mich: »Was machst du Unglücksjunge hier?« Ich sagte ihm, ich hätte mir nur das Lager angesehen. »Merke dir«, belehrte mich Großvater, »wenn du mit Dummköpfen zu tun hast, musst du vorsichtiger sein. Ein Dummkopf ist noch gefährlicher als eine geladene Maschinenpistole!« Darauf erklärte ich Großvater: »Ich will nach all diesen Verfolgungen und Beleidigungen durch die Ungarn von heute an nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Wir sprechen Ungarisch, wir haben unter den Ungarn gelebt, ich bin in eine ungarische Schule gegangen, aber ich verzichte für immer auf das, was Onkel Arnost die ungarische Identität genannt hat.« Großvater entgegnete nach einem kurzen Moment des Schweigens, dass er mich verstehe. Ich sei schon erwachsen genug, um allein darüber zu entscheiden.
Als wir uns in unser Eck in der Darre gesetzt hatten, erklärte Großvater, er habe für uns eine peinliche Nachricht. Der Anführer der Gendarmen habe alle Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden zu sich gerufen und ihnen gesagt, ihm seien morgens Diebstähle gemeldet worden. Dabei seien aus dem Gepäck der Leute verschiedene Dinge weggekommen. »Es ist sehr schlecht«, sagte Großvater, »dass gleich zu Beginn unserer Reise, und obwohl uns bisher noch nichts so Schlimmes passiert ist, Leute unter uns sind, die andere Juden bestehlen. In friedlichen Zeiten gab es die nicht, aber je erbärmlicher die allgemeine Situation ist, umso aktiver und gefährlicher werden solche Leute. Ich möchte nicht erleben, wozu sie unter wirklich extremen Bedingungen fähig und bereit sind. In einer Lage wie jetzt haben wir einen Hang, die Dinge auf einfache Formeln zu bringen. Wir halten die Unterdrücker für böse und die Unterdrückten für gut. Aber unter dem Druck der Umstände verschlechtern sich auch bei manchen Unterdrückten die Sitten. Als ob das Böse eine Seuche wäre, mit der sich die Unterdrückten bei den Unterdrückern anstecken können.« Morgens stand ich als Erster auf und lief zur Toilette, um nicht Schlange stehen zu müssen, wusch mich ein wenig, so gut es ging. Die anderen entfernten sich, ich ging noch ein bißchen auf und ab. Plötzlich hörte ich, wie jemand leise meinen Namen rief. Ich schaute auf und erblickte unweit von mir Olga. Sie flüsterte: »Tom, ich fürchte mich und habe böse Vorahnungen. Uns werden sie wohl nicht zur Arbeit führen. Eher wollen sie uns alle vernichten. Um mich geht es nicht, ich habe schon genug erlebt. Aber du bist noch so jung! Du könntest sterben, ehe du erwachsen bist und die Liebe kennenlernst. Mir tut es leid um uns alle. Ich möchte, dass du mich wenigstens anschaust.« Sie blickte sich um, stand auf und öffnete vor mir ihren Morgenmantel, aber so, dass niemand anderes sie sah. Darunter war sie ganz nackt. Sie lächelte und sagte: »Hast du noch niemals eine nackte Frau gesehen?« Wahrheitsgemäß antwortete ich: »Ich habe noch keine gesehen, aber du magst recht haben, dass ich keine andere mehr sehen und da nichts mehr erleben werde. Doch ich habe wenigstens dich gesehen. Du bist schön! Danke!« Und sie lächelte wieder.
Im Sammellager verbrachten wir einige Tage in einem Zustand, den ich Vor-sich-hin-Vegetieren nennen würde. Dort ereignete sich nichts mehr von Belang. An einem Nachmittag überbrachte Großvater die Nachricht, dass wir am nächsten Morgen mit unseren Habseligkeiten in die Waggons steigen und in ein Arbeitslager abfahren würden. Wieder wurde aber nicht gesagt, wohin es gehen solle. Umsichtig verkündete jemand, dass wir recht lange fahren würden, deshalb sollten wir Flaschen mit Wasser füllen, um auf jeden Fall auch eigene Vorräte zu haben. Die Gendarmen riefen uns zu »Ordnung und Zusammenarbeit« auf. Sie fuhren unsere Sachen und die Leute, die schlecht zu Fuß waren, zum Bahnhof. Wir anderen liefen. Der Bahnhof war nicht weit. Unterwegs begegneten wir fast niemandem, die Leute, die auf der Straße waren, schauten weg. Wir brauchten uns also von keinem zu verabschieden, die Gendarmen zählten uns erneut mehrmals durch.
Der Güterzug, in den wir einsteigen sollten, stand auf dem Güterbahnhof. Wir stiegen nacheinander in die Viehwaggons, in einen mussten ungefähr achtzig bis neunzig Personen hinein. Vor dem Einsteigen wurden wir ein letztes Mal sorgfältig gezählt, damit sie genau wussten, wie viele sie mit diesem Zug wegschickten. Wie Historiker viel später ermittelten, waren 2.678 Personen in diesem Zug.
Tomáš Radil:
Ein bisschen Leben vor diesem Sterben
Aus dem Tschechischen von Hubert Laitko
Arco-Verlag
696 S., geb., 32,00 €
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