Eine Geschichte moralischen Versagens

Das Versprechen einer global gerechten Pandemiebekämpfung wurde nicht eingelöst

  • Andreas Wulf
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Pandemie trifft uns nicht alle gleich, sie verstärkt die Ungleichheit auf der Welt zum Schaden aller. Aktuell - und absehbar für die kommenden Wochen und Monate - zeigt sich diese Ungleichheit vielleicht am drastischsten beim unterschiedlichen Zugang zu Impfstoffen - aber natürlich auch an der Zahl verfügbarer Tests und Schutzmasken sowie den Betreuungs- und Behandlungsmöglichkeiten der an Covid-19 Erkrankten.

Dies hat der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, gemeint, als er kürzlich bei der Eröffnung der 148. Sitzung des Exekutivrates der WHO sagte, »dass die Welt am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens steht«. Denn die Versprechungen vom vergangenen Frühjahr, dass Impfstoffe und andere Mittel zur Überwindung der Pandemie »globale öffentliche Güter« für alle sein müssen, haben sich als leer erwiesen.

Enorme staatliche Gelder wurden in den vergangenen Monaten in die Forschung und Entwicklung von Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19 investiert, die Bundesregierung beteiligte sind mit fast 400 Millionen Euro an der Entwicklung eines Impfstoffs von Biontech/Pfizer und stieg sogar selbst als Teilhaberin beim Tübinger Unternehmen Curevac ein. Aber die öffentlichen Renditen dieser öffentlichen Investitionen bleiben minimal.

Denn die globalen Spielregeln, die durch das Patentsystem der Welthandelsorganisation (WTO) den finalen Entwicklern dieser Produkte ein Monopol darauf einräumen, scheinen trotz globaler Pandemie in Stein gemeißelt zu sein. Sie begünstigen nicht nur die Besitzer von Patenten, Daten und Warenzeichen, wie an den rasant gestiegenen Aktienkursen von Curevac, Biontech, Pfizer, Moderna und Co. zu sehen ist, sondern auch die wohlhabenden Länder, die diese teuren Produkte vorbestellen und im Voraus bezahlen können und so die Armen aus dem Rennen um die Impfstoffe heraushalten.

Die Geschichte der letzten zwölf Monate bei der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe zeigt überdeutlich, dass öffentliche Investitionen der zentrale Hebel zum raschen Erfolg sind und gerade nicht das Patentsystem, das die Hersteller für ihre Investitionsrisiken im Erfolgsfall nachträglich entschädigen soll und damit den zentralen Anreiz in einem kapitalistischen System zur Produktion neuen Wissens und neuer Produkte darstellt. Dennoch wird die Legende der unverzichtbaren Patente weitergesponnen.

Dabei wurden mehrere Mechanismen vorgeschlagen, um eine gerechte Verteilung und einen gerechten Zugang zu diesen lebenswichtigen Gütern zu fördern und voranzutreiben, um gemeinsam die Pandemie zu überwinden.

Die jüngste Initiative vom Oktober 2020, die Regeln des geistigen Eigentums bei der WTO vorübergehend aufzuheben, damit Medikamente und Impfstoffe von anderen Herstellern schneller und billiger kopiert werden können, wurde von Südafrika und Indien angestoßen. Beide Länder mit einer erheblichen Zahl an Covid-19-Fällen werden inzwischen von mehr als 100 Ländern unterstützt, aber ihr Vorschlag wird weiterhin blockiert von einer relevanten Zahl mächtiger Staaten, die mit dem Status quo gut leben können. Erst dieser Tage wieder hat die Europäische Kommission dies bestätigt, deren Chefin Ursula von der Leyen im Frühjahr 2020 eine starke Wortführerin der »globalen öffentlichen Güter« war.

Ein weiterer Vorschlag zur Bündelung von freiwilligen Lizenzen, Studien- und Zulassungsdaten und Know-how zur Beschleunigung des Technologietransfers, der zur Überwindung der Knappheit an Impfstoffen notwendig ist, ist der Covid-19 Technology Access Pool, kurz CTAP. Er wurde bereits im Mai vergangenen Jahres auf Initiative von Costa Rica und inzwischen unterstützt von einer Gruppe von mehr als 40 Ländern unter dem Dach der WHO eingerichtet. Dieses Konzept - gestaltet nach dem Vorbild des erfolgreichen Pools für Patente und Lizenzen auf Medikamente zur Aids-Behandlung - hat ebenfalls nie die Unterstützung relevanter Länder mit Forschungskapazitäten erhalten. Im Gegenteil, es erfuhr aktive Anfeindungen seitens der Pharmaindustrie und führt seit seiner Gründung ein Schattendasein. Nicht eine einzige Lizenz wurde darin eingebracht.

Und schließlich der weiterhin viel propagierte Access to Covid-19 Tools (ACT) Accelerator mit der Covax-Initiative für Covid-19-Impfstoffe, die von den öffentlich-privaten Impfallianzen GAVI und CEPI abgewickelt wird: Vom Konzept her hätte dies eine gemeinsame Anstrengung für reiche und arme Länder sein sollen, um für alle einen gerechten Anteil an Impfstoffen schnellstmöglich zu gewährleisten, sobald diese verfügbar sind. Denn mit Covax sollten strategische Finanzmittel und eine entsprechende Verhandlungsmacht für niedrigere Preise und Produktionsausweitungen gegenüber den Pharmaunternehmen gebündelt werden. Die WHO entwickelte auch einen Verteilungsplan, nach dem allen Ländern prozentual zur jeweiligen Bevölkerungszahl schrittweise die Impfstoffe zur Verfügung gestellt würden, sobald sie produziert und zugelassen sind.

Tatsächlich ist daraus eine reine karitative Veranstaltung geworden, bei der sich die reichen Länder mit einer »Solidaritätsfinanzierung« für die ärmsten 92 »Empfänger-Länder« freikaufen, die warten müssen, bis die Pharmaunternehmen die meisten ihrer inzwischen 56 bekannten bilateralen Verträge mit den reicheren Ländern (und einigen mit mittlerem Einkommen) bedient haben. Bis heute sind keine verbindlichen Lieferfristen an Covax und an die beteiligten Länder bekannt.

Die Folgen dieser bilateralen Deals sind verheerend. Um noch einmal WHO-Generaldirektor Tedros zu zitieren: »Mehr als 39 Millionen Impfstoffdosen wurden jetzt in mindestens 49 Ländern mit höherem Einkommen verabreicht. Gerade einmal 25 Dosen wurden in einem Land mit dem niedrigsten Einkommen verabreicht. Nicht 25 Millionen; nicht 25 000; nur 25.«

Die großen Firmen machen sich bislang (bis auf Pfizer/Biontech) nicht einmal die Mühe, ihre Impfstoffe beschleunigt auch bei der WHO zu registrieren - was den Registrierungsprozess in ärmeren Ländern mit begrenzten Ressourcen ihrer Arzneimittelbehörden erheblich beschleunigen würde. Immerhin stellen jetzt weitere Impfstoffhersteller solches in Aussicht, eine entsprechende Beurteilung der WHO ist in einigen Wochen zu erwarten. Auch dies kritisierte Tedros deutlich.

Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Die dringend benötigte »Gesundheitssystem«-Komponente, die nur als nachträgliche Ergänzung in die beeindruckende ACT-Accelerator-Architektur eingeführt wurde, hat bis jetzt nur minimale Mittel erhalten. Dies wird sich als besonders entscheidend erweisen. Ohne starke Gesundheitssysteme wird die Perspektive, Milliarden von Menschen weltweit schnell zu impfen, zu einem immer ferneren Traum - ganz zu schweigen von dem erodierenden Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Systeme.

Die Rolle der Zivilgesellschaft darf in dem Streben nach einer global gerechten Pandemiebekämpfung nicht unterschätzt werden. Aktivisten in Südafrika, in Kenia, in Indien oder in Brasilien haben von ihren Regierungen lautstark eine Corona-Politik gefordert, die sich den gesundheitlichen und sozialen Rechten der Bürger verpflichtet zeigt. Und weltweit hat sich aus den Erfahrungen der Kämpfe für den Zugang zu Aids-Medikamenten vor 20 Jahren eine neue Bewegung gebildet, die gegen dieselben Patentgesetze kämpft, die damals schon zur Diskussion standen.

Die großen Firmen und die reichen Staaten behaupten gegen jeden Beweis, dass Patente nichts mit dem Zugang zu Covid-19-Impfstoffen zu tun haben - sie wollen das System der heutigen globalen Wirtschaftsstrukturen nicht ins Wanken bringen. Aber das ist die einzige Chance für mehr Gerechtigkeit: das Boot zu schaukeln, nicht zu stabilisieren, essenzielles Gesundheitswissen und Werkzeuge aus dem Privateigentum herauszulösen, um sie für alle zugänglich zu machen. Dies trifft nicht nur auf die Impfstoffe zu - sondern genauso auf privatisierte Krankenhäuser und Finanzierungssysteme, die auf Wettbewerb statt guter Planung aufgebaut sind. Das Schlagwort von der »Rekommunalisierung« macht schon die Runde.

Andreas Wulf ist Arzt und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit bei Medico International. Die Organisation hat die Kampagne »Patente töten« mitinitiiert.

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