Kritik der reinen Rationalität

Simon Poelchau meint, dass es langsam Zeit wird, über ein Ende des Lockdowns zu reden

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.
Im VWL-Grundstudium wird den Studierenden vor allem eins eingetrichtert: dass die Menschen rational handelnde Wesen sind. Insofern ist es rational, angesichts der Todeszahlen die Covid-Infektionsrate möglichst weit nach unten zu drücken, insofern ist die Intention der Kampagne »Zero Covid« erst mal aus linker Sicht sympathisch, die Maßnahmen, wie sie derzeit im privaten Bereich bestehen, mit derselben Rigorosität auch in der Arbeitswelt durchzusetzen. Schließlich sollen Profite nicht über Menschenleben gehen.

Doch sind Menschen nicht allein rationale Wesen, sie sind Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen – und vor allem soziale Wesen. Nimmt man ihnen ihre sozialen Kontakte, dann nimmt man ihnen, was sie als Menschen ausmacht. Und dies geschieht gerade in weiten Teilen im Lockdown. Das soll nicht heißen, dass die derzeitigen Maßnahmen nicht notwendig gewesen wären, um die Pandemie zu stoppen.

Doch angesichts sinkender Fallzahlen sollte man die Diskussion zulassen, ob alle Kontaktbeschränkungen weiter aufrechterhalten bleiben oder Lockerungen bald wieder möglich sein sollten. Das ist wahrlich keine einfache Frage. Es gilt dabei, zwischen einer möglichen höheren Zahl an Toten und individuellen Freiheitsrechten abzuwägen. Aber all jene in die rechte Ecke zu schieben, die Lockerungen wollen, ist falsch. Beiträge wie die von Medico International zeigen, dass es durchaus linke Kritik am Lockdown geben kann, dass der Wunsch nach einer covid-freien Welt vielleicht einfach auch unrealistisch ist und wir lernen müssen, mit dem Virus umzugehen.

Kontra: Lockerungen sind nicht dran
Daniel Lücking ist für ein Festhalten am jetzigen Weg

Seit langem wird vor den sozialen Folgen des Lockdowns gewarnt. Laut der Opferorganisation Weißer Ring nahmen die Fälle häuslicher Gewalt allein von Januar bis Oktober 2020 um zehn Prozent zu, psychische Leiden wie Depressionen, Sucht und Angststörungen werden häufiger. Und die Situation stresst nicht mehr nur Menschen in prekären Situationen. Wenn Eltern ihre Kinder im Innenhof spielen lassen und auf Kontaktbeschränkungen pfeifen, dann muss das nicht gleich heißen, dass sie Coronaleugnerinnen oder -leugner sind, sondern dass ihnen die Decke auf den Kopf fällt.

Natürlich heißt eine Lockerungsdiskussion nicht, dass morgen gleich Clubs und Bars wieder öffnen sollen, auch werden wir alle lange noch mit Masken leben müssen. Aber vielleicht ist im privaten Bereich bald wieder etwas mehr vertretbar. Ansonsten wird irgendwann der Punkt kommen, an dem sich eh immer weniger Menschen an die Beschränkungen halten – nicht nur Coronaleugner oder andere Spinner. Weil es einfach nur menschlich ist. Die meisten können selber gut genug abwägen.

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