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Von der Straße ins Einbettzimmer
Hamburger Sozialbehörde reagiert offenbar auf Kritik und öffnet ein Haus für psychisch belastete Obdachlose
Mit ihrer Ankündigung, ab sofort 35 Übernachtungsplätze in Einzelzimmern anzubieten, ist die Hamburger Sozialbehörde offenbar über ihren eigenen Schatten gesprungen. Hat die SPD-geführte Behörde doch bisher gebetsmühlenartig auf ihr Winternotprogramm mit Mehrbettzimmern verwiesen. Sozialverbände, Initiativen und die Obdachlosenzeitung »Hinz&Kunzt« hatten hingegen immer wieder gefordert, leer stehende Hotels für Menschen zu öffnen, die das offizielle Winternotprogramm der Stadt nicht annehmen und vorziehen, auch bei Minustemperaturen auf den eigenen Schlafsack als Kälteschutz zu vertrauen. Mit teilweise tödlichen Folgen: Nach neuesten Zahlen sind seit Dezember 2020 bereits elf bis zwölf Obdachlose auf der Straße verstorben. Viele befürchten, in den Mehrbettunterkünften bestohlen zu werden. Andere können oder wollen nicht mit mehreren Problembelasteten in einem Raum schlafen, fühlen sich eingeengt oder auch bedroht.
Laut Sozialbehörde richtet sich das Angebot an »bis zu 35 Personen mit besonderen psychischen und physischen Beeinträchtigungen«. Die Behörde weiter: »Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen oder psychischen Verfassung nach professioneller Einschätzung einer speziellen Unterbringungsumgebung bedürfen und auf der Straße angetroffen werden, sind nach Absprache mit dem Betreiber durch die Straßensozialarbeiter beziehungsweise bei Gefahr im Verzug durch die Polizei oder Feuerwehr in die Einrichtung in der Eiffestraße zu begleiten.« Auf Nachfrage von »nd« erläutert Pressesprecher Martin Helfrich: »Die Einschätzung wird beispielsweise durch die Akteure der Straßensozialarbeit, jeweils in Abstimmung mit fördern & wohnen beziehungsweise die zuständige Behörde beziehungsweise Einsatzkräfte der von Polizei und Feuerwehr getroffen.« Fördern & wohnen (f&w) ist Träger der meisten Obdachlosenunterkünfte in der Hansestadt sowie der Flüchtlingsunterbringung. Laut Sozialbehörde leben etwa 28 000 Wohnungslose in Unterkünften von f&w.
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Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter der Obdachlosenzeitung »Hinz&Kunzt«, begrüßte im Gespräch mit »nd« den Vorstoß der Sozialbehörde: »Das ist durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Die Zimmer waren auch sehr schnell weg, innerhalb von zwei Tagen. Wir hoffen, dass das erst der Anfang ist und die Sozialbehörde noch mehr Einzimmer-Schlafplätze zur Verfügung stellt. Das ist ja eine ältere Forderung von uns, aber gerade in Zeiten der Pandemie dient es auch dem Infektionsschutz der Obdachlosen.«
Mittlerweile gebe es bereits ein Spenden finanziertes Programm zur Unterbringung in Hotels, das von freien Trägern und Initiativen unterstützt wird, so Karrenbauer. Unter anderem habe der Konzern Reemtsma 300 000 Euro als Anschubfinanzierung zur Verfügung gestellt, so dass bisher mehr als 140 Menschen in Hotelzimmern untergebracht werden konnten. »Bereits am heutigen Freitag konnten wir durch Spenden fünf Leute unterbringen, von denen drei gemeinsam in einem Zelt gelebt hatten. Ein Hotelzimmer kostet aktuell rund 32 Euro die Nacht. Die Aktion soll nach Möglichkeit bis Ende April laufen.«
Bürgerschaftsabgeordnete Stephanie Rose (Linke) kommentierte die Initiative der Sozialbehörde: »Scheinbar hat der Druck von Opposition, Wohlfahrtsverbänden und Straßensozialarbeit gewirkt. 35 Zimmer sind allerdings natürlich viel zu wenig, und diese richten sich ja auch nur an eine ganz bestimmte Gruppe. Ich hoffe, dass ist erst der Anfang und nicht das Ende.« Nötig seien »mehr Einzelzimmer und mehr dezentrale Einrichtungen«, auch für Menschen etwa mit Hund als Begleiter. »Außerdem brauchen wir mehr Maßnahmen, für Wohnraumperspektiven, dazu zählt die Umsetzung des längst beschlossenen Housing First Projekts.« Als Vorbild gilt hier Finnland, wo Initiativen Häuser mit Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnungen aufkauften und renovierten. Hier können Obdachlose ohne Vorbedingungen einziehen, mit sozialarbeiterischer Unterstützung, sofern gewünscht.
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