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Bloßes Verschärfen der Corona-Maßnahmen reicht nicht
Die Corona-Politik der Bundesregierung, aber auch Initiativen wie Zero Covid vergessen, die Regeln der wissenschaftlichen Seuchenbekämpfung durchzusetzen, meint Heinrich Niemann.
In den vergangenen Monaten ist es zunehmend schwerer geworden, die politische Praxis der Corona-Bekämpfung nachzuvollziehen. Selten erfährt der Bürger, aus welchen epidemiologischen, hygienischen, pädiatrischen oder virologischen Gründen Maßnahmen beschlossen wurden und welche wissenschaftlichen Studien ihnen zugrunde liegen. Initiativen wie Zero Covid kritisieren die aktuelle Politik daher zurecht. Ihren Forderungen nach sozialer und finanzieller Absicherung der von den Corona-Maßnahmen betroffenen Menschen kann nur zugestimmt werden. Doch selbst bei einem »solidarischen Shutdown« rücken entscheidende Regeln zur Bewältigung dieser Seuche – und jeder anderen Epidemie oder Pandemie – in den Hintergrund.
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In der Medizin oder in der Heilkunst gilt der weltweit anerkannte Grundsatz, eine Krankheit mit den gesicherten Erkenntnissen der Medizin zu behandeln und möglichst zu heilen. Das wird bei einem Herzinfarkt oder anderen Diagnosen als selbstverständlich gesehen und so gehandhabt. Wie ist es nun aber bei Seuchen? »Eine Infektionskrankheit bekämpft man vernünftigerweise nach den Regeln der wissenschaftlichen Seuchenlehre«, sagte Professor Niels Sönnichsen, ehemaliger Chef der Hautklinik an der Berliner Charité, 1989 in Bezug auf die Ergebnisse der Aids-Bekämpfung. Er fügte hinzu, dass die Infektionsquellforschung dabei das Herzstück sei. Diese Regeln gelten noch immer.
In den vergangenen Wochen scheint genau dieser Grundsatz die Entscheidungen der Regierenden jedoch nur noch unwesentlich beeinflusst zu haben: Seit Monaten wurde die Nachverfolgung von Infektionen – und damit eine entscheidende Methode der Seuchenbekämpfung, solange keine Impfung und Therapien greifen – praktisch aufgegeben. Dass in Gesundheitsämtern seit geraumer Zeit Bundeswehrsoldaten helfen, ist gut. Warum für solche Aufgaben nicht auch Studenten, zum Beispiel der Medizin, gewonnen werden könnten, wurde öffentlich nur von FDP-Politiker Wolfgang Kubicki gefragt. Auch nach einem Jahr Pandemie gibt es kein Konzept für eine zukunftssichere, ja epidemiesichere Ausstattung der Gesundheitsämter. Dazu gehören neben funktionierender Technik auch ausreichende und gut qualifizierte Ärzte und MitarbeiterInnen sowie eine bessere Vernetzung mit den ambulant tätigen Ärzten. Die Verzögerung systematischer und gezielter Tests, die in Tübingen oder in Köln sehr nützlich waren, ist ebenfalls nicht zu rechtfertigen.
Vielmehr stellt sich die Frage, wer – neben zahlreichen Virologen – eigentlich mit welchem Mandat die Bundesregierung berät. Ein Thema, das jüngst der SPD-Politiker und Erste Bürgermeister von Hamburg, Peter Tschentscher, bei »Maybrit Illner« indirekt einräumte: »Wir bräuchten auch einmal einen Epidemiologen in unseren Expertenanhörungen.« Die Bundesärztekammer hatte bereits im Oktober 2020 einen »Nationalen Pandemierat« mit Medizinern aus ganz unterschiedlichen Bereichen vorgeschlagen. Nicht zuletzt, weil alle Maßnahmen auch von der Gesellschaft mitgetragen werden müssen. Eine bloße Verschärfung, ein allgemeines Stillstehen und landesweites Abschalten durchzuführen, verbunden mit einem Angst befördernden moralischen Druck, ist nicht zielführend. Auch mit Blick auf gesundheitliche, soziale, ökonomische und andere Nebenwirkungen auf die Menschen.
Das zeigt sich bei der Kitabetreuung: Kinder von Eltern mit systemrelevanten Berufen werden erfreulicherweise in Kitas aufgenommen, dann deswegen, weil das aus medizinischer Sicht vertretbar ist. Studien belegen diese Auffassung, auch im Wissen über das Ansteckungspotenzial der Kinder. Anders dürfte man keine Kita öffnen, die Gesundheit ist entscheidend. Warum jedoch können dann andere Kinder nicht in die Kita, die für deren Gedeihen nachweislich geeigneter ist als häusliche Corona-Bedingungen? Dafür braucht es wegen der zwingenden Hygienemaßnahmen Lösungen für meistens geringere Platzkapazitäten, vor allem medizinischen Schutz und Hilfe für die KitaerzieherInnen. Es ist auch nach einem Jahr der Pandemie schwer zu erkennen, inwieweit in der Politik ein solches Herangehen bestimmend ist.
Heinrich Niemann ist Facharzt für Sozialmedizin. Er war bis 2001 mit Mandat der PDS Gesundheitsstadtrat im früheren Berliner Bezirk Hellersdorf.
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