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Viele offene Fragen
Rund ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau kämpfen Angehörige weiter für Aufklärung
»Seit einem Jahr kämpfen wir für eine vollständige und lückenlose Aufklärung«, sagt Ajla Kurtović. Ihr Bruder Hamza war am 19. Februar 2020 bei dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau ermordet worden. Acht weitere junge Menschen tötete der Täter damals, bevor er seine Mutter und sich selbst erschoss.
Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt, doch viele Fragen bleiben weiterhin offen: »Warum konnte der Täter trotz Waffenscheins unbehelligt verschwörungsideologische Strafanzeigen stellen? Warum haben die Behörden nicht reagiert, als er zwei Wochen vor der Tat ein rassistisches ›Manifest‹ im Internet veröffentlichte?«, fragt Kurtović am Donnerstag bei einer vom Mediendienst Integration organisierten Online-Pressekonferenz zu den Hintergründen und Folgen des Anschlags.
Dass es nicht nur vor der Tat zu Versäumnissen gekommen war, sondern auch in der Tatnacht selbst, ist inzwischen klar: Im Januar hatten Medien über Probleme beim Notruf berichtet. Kurtović erinnert sich auch an einen »unmenschlichen« Umgang der Beamten mit den Angehörigen. Bis in die Morgenstunden hätten ihre Eltern keinerlei Auskunft über den Zustand ihres Sohnes erhalten. Selbst nachdem klar war, dass Hamza Kurtović den Anschlag nicht überlebt hatte, dauert es eine ganze Woche, bis die Familie schließlich über seinen Verbleib informiert wurde.
An der Pressekonferenz nahmen auch der Hanauer Opferbeauftragte Andreas Jäger, sowie der Rechtsextremismusforscher und Leiter des Jenaer Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent, teil. Dass rassistisch motivierte Straftaten in Deutschland selten aufgeklärt werden, liegt laut Quent auch an einer Rechtslücke: »Es gibt in der BRD anders als in Großbritannien oder den USA kein Gesetz gegen Hasskriminalität.« Wenn Beamte eine Tat aufnehmen, müssen sie entscheiden, ob es sich dabei um ein politisches Motiv handelt. »Und diese Einordnung ist oft falsch«, so Quent. Viele rassistische Taten, die aus der Mehrheitsgesellschaft heraus begangen werden, würden nicht als extremistische Kriminalität begriffen. Betroffene würden häufig nicht ernst genommen oder andere Aspekte, etwa ein betrunkener Täter, überbewertet. Das führe zu einer Entpolitisierung.
Seit 1990 habe es nach Angaben des Bundesinnenministeriums 109 Opfer rechtsterroristischer Taten gegeben, Initiativen gegen Rechtsextremismus zählen dahingegen über 200 Opfer. »Das waren vor allem Linke, Minderheiten, von Rassismus Betroffene und Obdachlose«, erklärt Quent. Dass jedoch erst die Ermordung des Kasseler Politikers Walter Lübcke (CDU) für breites Entsetzen sorgte, zeige, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde.
Gleichzeitig habe die Bewaffnung von Rechtsextremisten, soweit den Behörden bekannt, zwischen 2019 und 2020 um 35 Prozent zugenommen, fügte Quent hinzu. »Da mangelt es am politischen Willen, diese Personen zu entwaffnen.«
Auch die Tatsache, dass es auf rassistische Gewalt bisher keine angemessene Reaktion der Gesellschaft gebe, sieht Quent kritisch: »Niemand radikalisiert sich im luftleeren Raum.« Rechtsextremistischer Terror sei nicht auf Strukturen angewiesen, habe aber immer einen Kontext. Es liege nun in der Hand aller, die Wahrscheinlichkeit von rassistischen Taten zu minimieren. Die Gesellschaft müsse ihre jahrhundertealte rassistische Prägung kontinuierlich bearbeiten. »Wir stehen da am Anfang eines langen Lernprozesses«, so Quent.
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