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Impfkampagne lässt Briten hoffen
Schnelle Durchführung der Corona-Schutzimpfungen in Großbritannien zeigt bereits die gewünschte Wirkung
Endlich hatte Boris Johnson einmal gute Nachrichten zu verkünden. In sichtlich bester Stimmung berichtete der Premierminister am Sonntag, dass Großbritannien den »Meilenstein« von 15 Millionen verabreichten Dosen der Corona-Schutzimpfung erreicht habe - eine »außergewöhnliche Leistung«, wie Johnson sagte. Die Ansprache war auch deshalb bemerkenswert, weil der Premier einmal nicht in Angeberei oder inhaltsleere Rhetorik verfiel: Das Impfprogramm in Großbritannien läuft tatsächlich wie am Schnürchen. In scharfem Kontrast zum Rest ihrer Corona-Strategie hat die britische Regierung bei den Impfungen weitgehend die richtigen Entscheidungen getroffen. Vor allem entschied sie sich dazu, auf die Expertise von Fachleuten zu vertrauen.
Im vergangenen April war die Impf-Arbeitsgruppe (Vaccine Task Force, VTF) gegründet worden. In diesem Gremium setzten sich Wissenschaftler, Vertreter der Pharmaindustrie und der Behörden zusammen, um eine Strategie auszuarbeiten. Geleitet wird die Task Force von der Biochemikerin und Risikokapital-Unternehmerin Kate Bingham. Entscheidend war, dass die Regierung nicht knauserte: Sie gab der Gruppe einen Blankoscheck, um die Entwicklung und Herstellung neuer Vakzinen zu unterstützen, ungeachtet der Kosten. Johnson habe Bingham aufgefordert, »dafür zu sorgen, dass etwas geschieht, und zwar schnell«, sagte Steve Bates, Vorsitzender des Branchenverbands Bioindustry Association und Gründungsmitglied der VTF.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
So setzte Großbritannien frühzeitig auf mehrere Projekte, die neue Impfstoffe entwickelten, darunter Biontech/Pfizer und Universität Oxford/Astrazeneca. Insgesamt sicherte die Arbeitsgruppe für die Briten über 400 Millionen Impfdosen zu geschätzten Kosten von insgesamt drei Milliarden Pfund, umgerechnet etwa 3,44 Milliarden Euro (die genauen Zahlen sind nicht öffentlich zugänglich) - schon bevor irgendwer abschätzen konnte, welche Projekte erfolgreich sein würden.
Die Arbeit der Universität Oxford wurde mit 90 Millionen Pfund (über 100 Millionen Euro) an öffentlichen Geldern unterstützt. Bereits im Mai schloss Großbritannien mit dem Pharmakonzern Astrazeneca einen Vertrag für die Lieferung von 100 Millionen Dosen ab - mehrere Monate vor der EU. Die Wetten der Arbeitsgruppe gingen am Ende auf: Drei Vakzinen haben bereits die Zulassung erhalten, Anfang Dezember begann die größte Impfkampagne, die das Land je gesehen hat. Auch hierbei verlässt sich die Regierung auf Fachkenntnis und vorhandene Strukturen.
Das ist ein deutlicher Gegensatz zu vielen anderen Aspekten ihrer Covid-Strategie. So engagierte die Regierung zur Kontaktnachverfolgung private Unternehmen ohne jegliche Erfahrung; der Fiskus ließ dafür zwölf Milliarden Pfund springen. Doch die Firmen sind überfordert: In dem halben Jahr bis November wurde gerade einmal die Hälfte der Leute erreicht, mit denen Covid-Infizierte Kontakt hatten. Das Magazin »New Statesman« bezeichnet das System zur Nachverfolgung von Kontakten als »ein Symbol für Inkompetenz und Geldverschwendung«.
Beim Impfprogramm hingegen ist der staatliche Gesundheitsdienst NHS federführend. Simon Stevens, Chef des NHS in England, spannte bestehende Netzwerke von Hausarztpraxen ein, die Primary Care Networks. Diese nehmen den Großteil der Impfungen vor. Wenn sie an der Reihe sind, werden die Patientinnen und Patienten direkt von ihrem Hausarzt kontaktiert. In vielen anderen Ländern hingegen muss man sich zunächst umständlich registrieren.
Das britische Impfsystem sorgt dafür, dass das Gros der Bevölkerung erfasst wird und dass Vorgaben von oben schnell durchgestellt werden. David Salisbury, der früher für Immunisierungen in Großbritannien verantwortlich war, findet, ein solches zentralisiertes System sei »der ideale Weg, um ein Immunisationsprogramm aufzuziehen«. Insgesamt gibt es im Land 1500 Impfzentren, in denen 30 000 NHS-Angestellte und 100 000 Freiwillige arbeiten. Zudem helfen Logistikexperten vom Militär bei der Organisation.
Der Erfolg ist augenscheinlich. Derzeit werden jeden Tag durchschnittlich mehr als 400 000 Dosen verabreicht - die Briten impfen fünfmal schneller als die EU. Bislang haben fast alle Patienten aus den vier Gruppen mit den höchsten Prioritäten die erste Dosis erhalten, darunter Gesundheitsmitarbeiter, Bewohner von Pflegeheimen, Risikopatienten sowie alle über 70-Jährigen.
Dass die Impfkampagne so gut läuft, birgt allerdings auch Risiken. Schon drängen manche aus dem Lager der konservativen Tories ihren Chef, den Lockdown so schnell wie möglich zu beenden. Im Parlament haben sich über 60 Tory-Abgeordnete zu einer informellen »Covid Recovery Group« zusammengetan, die sich für Lockerungen stark macht. Sie sagen, wenn alle besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen geimpft sind, gebe es »keine Rechtfertigung«, das öffentliche Leben weiterhin einzuschränken. Doch Johnson ist vorsichtig geworden. Anders als im vergangenen Frühjahr schreckt er davor zurück, das baldige Ende der Pandemie zu prognostizieren. Der Austritt aus dem Lockdown werde »allmählich, aber unumkehrbar sein«, sagte er am Montag.
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