Die Sachsen-Sioux sind los

Bernd Schirmer lässt aus dem Indianerspiel ein urkomisches Nachwendedrama werden

  • Lesedauer: 11 Min.

Sie waren auf Pferden über die Grenze geritten, ihre Tomahawks und Lassos schwingend, mit wehenden Federbüschen und mit Freudengeheul, vornweg der Häuptling Grüner Pfeil auf seinem Schimmel und ihm hinterdrein Pfeifender Atem, Shaking Hand, Listiger Schakal, Schleichender Plattfuß und die anderen Apachen, und auch die Dakota und die Sioux, mit denen sie sich in den Bergen versammelt hatten zum Großen Pow-Wow. Es geschah an einem nebligen Morgen im November, als sie johlend und lachend in die kleine Stadt einfielen, die hinter der Grenze lag, und daran erinnerten sich alle noch lebhaft, und sie erzählten begeistert davon, denn es war einer der schönsten Tage in ihrem Indianerleben. Auch wenn das schon der Anfang vom Ende war, doch das konnten sie nicht ahnen. Noch schöner war vielleicht nur die Schlacht um die Grüne Aue, als sie gegen die Cowboys kämpften, die sie um ihr Land bringen wollten, aber das war später, danach war alles endgültig vorbei, ihr wildes und ihr freies, schönes Leben, wie sie es nannten. Aber vergessen konnten sie das alles nicht. Sie erzählten immer wieder davon. Wenn sie müßig im Gewerbepark herumstanden oder wenn sie sich im Supermarkt zufällig trafen, raunten sie sich die alten Geschichten zu …

Nein, sagte Wahtawah, ich wollte nicht mehr, schon damals nicht, als wir in den Bergen waren zum letzten großen Pow-Wow des Jahres. Ich wollte nicht mehr mit selbstgebastelten Mokassins herumlaufen und mit geflochtenen Zöpfen, ich wollte kein Feuer mehr machen ohne Streichhölzer, ich wollte nicht mehr auf modrigem Stroh im Tipi schlafen. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich wollte keine Squaw mehr sein.

Bernd Schirmer

Sie sind Rothäute: aus Sachsen, ihr Tipi steht auf der Grünen Aue an der Elbe. In jeder Stunde ihrer Freizeit, in jedem Urlaub spielen sie Indianer. Als an einem Novembertag die Grenze aufgeht, preschen sie auf ihren Pferden, mit wehenden Federbüschen und Tomahawks schwingend, hinüber. Die Roten in der fränkischen Kleinstadt, so hatte man sich das im Westen auch nicht vorgestellt.

Doch zurück im Osten, beginnt für die Freizeitindianer der Kampf um Land und Leben. Des Häuptlings Frau will keine Squaw mehr sein, die Grundstücksentwickler kapern die Grüne Aue und Einsamer Wolf, der einst in den Westen ging, kehrt als Cowboy zurück. Sind Sie bereit für High Noon?

Bernd Schirmer, geb. 1940 in Leipzig, studierte Germanistik und Anglistik und arbeite bis 1968 als Hörspieldramaturg. Danach ging er als Deutschdozent nach Algier, um ab 1973 als Dramaturg beim Deutschen Fernsehfunk zu arbeiten. Seit 1991 ist er freischaffender Autor.

Am Morgen war ich aus dem Tipi getreten und hatte mich umgeschaut. Die Männer richteten die Sättel ihrer Pferde, die Frauen machten sich an den Feuerstellen zu schaffen oder schleppten Reisig herbei, die jungen Leute, unter ihnen auch mein Sohn und meine Tochter, warfen Tomahawks und Messer gegen den Stamm eines abgestorbenen Baums. Einige schnitzten an Holzstücken herum oder schüttelten die buntgewebten Decken aus. Ich ließ die Blicke über das Lager schweifen, und mir kam das alles ziemlich lächerlich vor, die Verrichtungen, die Kleider, die Federn im Haar, die ernsten, verschlossenen Gesichter. Schließlich habe ich mir einen irdenen Krug gegriffen und bin weg, einfach weg. Doch ich bin nicht zur Quelle gegangen, sondern in den Wald. Mehrmals habe ich mich umgesehen, es war wie eine Flucht, aber gefolgt war mir niemand, weder mein Häuptling noch Schwellende Knospe, meine beste Freundin. […] Als ich auf einen stattlichen Birkenpilz zuging, surrte ein Pfeil an mir vorbei. Der stattliche Birkenpilz sank, getroffen, in sich zusammen. Witzig fand ich das nicht. Der Häuptling kam aus dem Gebüsch gekrochen und zog den Pfeil aus dem zerschossenen Pilz, wischte ihn ab und steckte ihn in den Köcher zurück. Auf seiner Stirn stand steil eine Zornesfalte. Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Was denn in mich gefahren sei, wir seien nicht zum Spaß hier! Da konnte ich nur lachen, denn warum waren wir sonst hier, wenn nicht zum Spaß? Ich konnte mich nicht halten vor Lachen. Der Häuptling pflanzte sich vor mir auf und wurde immer ungehaltener. Sie hätten mich den halben Tag gesucht. Ich zuckte nur die Schultern. Ohne mich weiter um ihn zu kümmern, bückte ich mich und drehte einen großen Steinpilz aus dem Boden. Wahnsinn, und das noch im November! Stolz reckte ich ihm den Pilz hin. Eine schöne Pilzsuppe könnten wir da machen für alle, für die Apachen und für die Dakota und für die Sioux, denn jeden Abend Büffel am Spieß, spottete ich, sei auf Dauer auch etwas eintönig. Das fand er nun nicht witzig, der Häuptling. Er ergriff mich am Handgelenk und herrschte mich an, auf der Stelle mit ihm zu kommen. Ich riß mich los. Und dann habe ich ihm gesagt, was ich ihm schon lange hatte sagen wollen.

Ich will nicht mehr, habe ich gesagt. Ich will nicht mehr mit selbstgebastelten Mokassins herumlaufen und mit geflochtenen Zöpfen, ich will kein Feuer mehr machen ohne Streichhölzer, ich will nicht mehr auf modrigem Stroh im Tipi schlafen. Ich will das alles nicht mehr, verstehst du? Ich will keine Squaw mehr sein. Habe ich gesagt, ich weiß es noch genau. Es war das erstemal, daß ich so redete. Ich habe sonst immer alles mitgemacht, ohne zu murren und ohne aufzumucken. Verstört hat er mich angesehen, der Häuptling, und seine Lippen waren ein schmaler Strich. Schließlich senkte er den Blick, schuldbewußt. Es sei ja das letztemal in diesem Jahr, murmelte er …

Ja, sagte Schwellende Knospe, wir haben das alle schon gewußt. Es kam im Fernsehen, es kam immer wieder. Fernsehen im Tipi ist nie Usus gewesen, aber Große Schlange hatte einen Fernseher aus dem Dorf geholt, der lief mit Batterie, denn wir hatten ja keinen Strom, aber das spielt jetzt keine Rolle weiter. Ich bin jedenfalls dann auch rein, weil ich dachte, es käme ein Indianerfilm, denn dafür war ich schon immer zu haben. Indianerfilme und Liebesfilme, da kann ich immer heulen. Aber es war kein Indianerfilm, es waren Nachrichten. Politik hat mich nie interessiert, weil alles nur Propaganda ist, es ändert sich sowieso nichts, und was mein Pfeifender Atem ist, der hat immer dazwischengequasselt, es war nicht zum Aushalten. Und es kam ja auch nie was Gescheites bei uns im Tal der Ahnungslosen. Deshalb konnte ich auch nicht verstehen, warum die alle so glotzten mit offenen Mäulern. Aber mir ging es dann genauso, ich konnte es überhaupt nicht fassen. Erst dachte ich, das ist nur Fernsehen, das ist gar nicht wahr. Aber es kam immer wieder, und Große Schlange zappte immer neue Sender rein, es gab eine Menge Sender in dieser Gegend an der Grenze. Als der Grüne Pfeil und Wahtawah ins Tipi kamen, fing das gerade wieder von vorne an. Ein Mann mit einer randlosen Brille las etwas von einem Zettel ab. Ich weiß nicht, wer das war. Vielleicht einer von der Regierung oder so was in der Art, die lasen ja immer irgendwas von irgendwelchen Zetteln ab. Und dann war ein großes Getümmel auf dem Bildschirm und ein großes Geschrei und ein Hupkonzert, und ein Schlagbaum ging auf einmal hoch, und die Leute zogen an der Kamera vorbei, Alte und Junge, winkende Kinder auf den Schultern, und strömten und strömten in das erleuchtete Dunkel hinein, Bierflaschen wurden hochgereckt, Sektkorken knallten, Polizisten, die sich die Hand vors Gesicht hielten, wurden zur Seite gedrängt von jubelnden, schreienden, weinenden Menschen, und der Jubel wurde immer größer, das Hupen ohrenbetäubend, und eine volltönende Stimme sagte, es sei eine historische Stunde. Ich weiß nicht, ob Sie das damals auch gesehen haben, Frau Gyftel.

Es war mucksmäuschenstill im Tipi, nicht einmal der Pfeifende Atem quatschte dazwischen. Und alle haben verdattert geguckt und sich die Augen gerieben. Das gibt’s doch nicht, hat der Häuptling vor sich hingemurmelt, das ist die Mauer. Das war die Mauer, hat ein anderer gesagt, das weiß ich noch. Es war der Alte Rabe, unser Seher und Schamane. Das war die Mauer. Und plötzlich schrie einer auf im Tipi, einer vom Stamm der Dakota, denn die haben das so an sich und können sich nicht zurückhalten, und dann schrien auch andere los, und alle redeten durcheinander oder hatten Tränen in den Augen wie die Leute im Fernsehen, und der Jubel auf dem Bildschirm griff über auf das Tipi, und auch die Indianer fielen sich in die Arme und lachten und weinten und strömten hinaus ins Freie. Und fingen an zu tanzen und zu singen, wie wir das aus den Indianerfilmen kennen und von unseren Festen, wenn Freude herrscht. Reisigfeuer wurden entfacht, und es kreisten die Flaschen mit Feuerwasser. Immer wieder verschwanden einzelne Indianer im großen Tipi und sahen sich die Nachrichten von der historischen Stunde an, die immer wieder ausgestrahlt wurden, im historischen Stundentakt sozusagen. Sie konnten sich nicht satt sehen, und manche begriffen erst beim zehnten Mal, was geschehen war. Zum Beispiel mein Pfeifender Atem, der schon immer etwas schwer von Begriff war. Die Mauer ist weg, wenn ich das richtig deute, lallte Pfeifender Atem und nahm einen tiefen Schluck.

Es waren alle wie besoffen. Nur der Alte Rabe stand abseits, blickte suchend in den Sternenhimmel, wie ihm das als Seher zukam, und knurrte in seiner griesgrämigen, bedächtigen Art, daß das alles nicht gut gehen könne, und Gefahr sei im Verzug, und den Apachen und Sioux und Dakota drohe Unheil. Es war in den Wind gesprochen. Alle waren mit sich selber beschäftigt und redeten durcheinander, was sie jetzt alles machen würden. Weiße Feder und Schwarze Feder wollten am liebsten gleich nach Amerika, zu ihren Brüdern, den Apachen. Und was meine Freundin Wahtawah ist, die wollte auf der Stelle nach Venedig. Die hat die ganze Zeit nur von Venedig geredet. Ihr Häuptling war stinksauer, und das konnte ich gut verstehen, denn mit Venedig hatten die Indianer nun wirklich nichts zu tun.

Spät am Abend wurden die Häuptlinge und die Weisen zusammengerufen, um zu beratschlagen. Die einfachen Indianer wurden weggeschickt, aber ich habe mich an das Tipi herangeschlichen und durch einen Spalt gelinst. Ich sah sie mit ernster Miene Pfeife rauchen und die Köpfe wiegen. Ich sehe eure Stirnen umwölkt, meine Brüder, sprach Große Schlange, der Häuptling der Dakota, und wandte sich dem Alten Raben zu, der seine Brille putzte, was sagt unser Seher und Schamane? Alter Rabe setzte seine Brille wieder auf. Die Gläser waren dick, seine Augen schwammen darin wie Fische. Sie sollte hundert Jahre stehen, die Mauer, sagte er, so hat es der Allergrößte Häuptling verkündet, und lachte auf. Die anderen kicherten. Eine Weile palaverten sie, ob sie das Pow-Wow vorzeitig abbrechen sollten. Aber sie konnten die Gastfreundschaft der Dakota nicht verschmähen, und vielleicht war es ja auch ein Wink des Großen Manitu, daß sie sich zu dieser historischen Stunde just hier in den Bergen aufhielten.

Wie weit ist es bis zur Grenze, fragte Grüner Pfeil. Nicht weit, erwiderte Große Schlange, keine tausend Steinwürfe. Da wußten sie, was sie zu tun hatten. Sie erhoben sich wie ein Mann, und ich konnte gerade noch zur Seite springen. Sie kamen heraus und verkündeten den frierenden Indianern, was sie beschlossen hatten. Im Morgengrauen wollten sie rübermachen zu Pferde und mit ihren Karren, mit Mann und Maus. Die entschlossenen Blicke werde ich nie vergessen. Ein Sioux hob seinen Tomahawk wie zum Schwure, und die anderen taten es ihm gleich. Grinsender Luchs, ihr Häuptling, trat zu seinen Stammesbrüdern und gab ihnen ein Zeichen. Alle Sioux ließen ihre Tomahawks sinken. Keine Gewalt, rief der Häuptling der Sioux und riefen die anderen Häuptlinge ihren Stämmen zu, keine Gewalt.

Auf dem Asphalt waberte der Nebel, und plötzlich standen wir vor Stacheldrahtverhauen und Schlagbäumen. Vor uns zwei Soldaten, die Maschinengewehre im Anschlag. Ein Wachhund, der die Ohren spitzte. Die Grenzer sahen uns entgeistert an. Sie hatten hier an der Grenze noch nie leibhaftige Indianer gesehen. Sie kannten die Indianer nur aus den Defafilmen und aus den Karlmaybüchern, und sie wußten nicht, ob sie lachen oder schießen sollten. Der eine Soldat fing an zu schielen und zu schwanken, er mußte sich am Schlagbaum festhalten. Der andere war etwas kecker. Bist du Gojko Mitič oder was, fragte er schräg nach oben. Ich bin der Häuptling der Apachen, sprach Grüner Pfeil von seinem Schimmel herab. Mit fester Stimme, mit festem Blick. Furchtlos. Wahtawah lächelte. So hatte sie ihn immer geliebt, ihren Häuptling. Der Soldat sagte, daß wir nicht weiter könnten, denn das hier sei die Grenze, was der Hund nur bestätigen konnte, durch Bellen. Als der Häuptling sagte, daß wir nach Bayern wollten, hier geht’s doch nach Bayern, wechselten die beiden Soldaten einen verstörten Blick.

Ihren Reisepaß bitte, sagte der eine streng. Und das war wahrscheinlich das Komischste überhaupt, von berittenen Indianern den Reisepaß zu verlangen. Die fingen an zu kichern, und Pfeifender Atem, der seinem Häuptling nicht nachstehen wollte, regte sich furchtbar auf und rief forsch, sie sollten gefälligst zur Seite gehen, die Mauer ist offen. Und Adlerauge brüllte: Wir sind das Volk. Bald brüllten es alle im Chor und skandierten: Wir sind das Volk. Wir sind das Indianervolk. Aus der Baracke kam ein Offizier geschritten. Er war käsebleich und wandte sich an seine Soldaten. Es hat seine Richtigkeit, Genossen, ich habe telefoniert, ihr könnt aufmachen…

Bernd Schirmer
Der letzte Sommer der Indianer
Edition Schwarzdruck
Limitierte und numerierte Ausgabe
260 S., kt., 23,00 €

»Bist du Gojko Mitić oder was?«
Alle DEFA-Indianerfilme auf DVD im nd-Shop.
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