Pass bloß auf, Kitchike!
Eine Kleinstadt spielt das Reservatsspiel der Frenchies nicht mehr mit
Ich heb einen Fuß, steig in die Unterhose, und als ich ihn wieder abstellen will, ist da was Kaltes, Metallisches, Bewegliches drunter, und ich knall voll auf den Hintern. Shit! Meine Kopfschmerzen schießen ins Steißbein. Fuck, Lydia, jetzt schmeiß ich doch ein paar Blaue ein. Du hättest deinem kleinen Scarface ja sagen können, er soll seine Matchbox- Autos nicht überall rumfliegen lassen. Ich rapple mich auf und halte dabei die Luft an, weil ich mir ein- rede, dass es dann weniger weh tut. Da seh ich das zweite Post-it auf dem Wohnzimmertisch. Augen auf im Straßenverkehr! Ich muss lachen. Höchste Zeit fürn Abgang. In dem Moment vibriert mein Telefon.
Nix da! Wabush, du gehst da nicht ran. Du kennst die Regeln. Am Morgen danach ist Funkstille. Okay, sie ist jung und sexy, okay, sie bringt dich sogar in ihrer Abwesenheit zum Lachen. Hab aber trotz- dem keinen Bock, meinen Pick-up jeden Abend in derselben Garage zu parken. Vor allem nicht, wenn das heißt, für den kleinen Waso Ersatzpapa zu spielen. Hätt ich Kinder gewollt, hätt ich welche in die Welt gesetzt, und zwar vor meinem Vierzigsten. Kitchike ist tote Hose, mausetot, das ist keinem Nachwuchs zumutbar. So ein Erbe willst du keinem mitgeben: zerrissen zwischen der Stadt und dem Reservat, der glorreichen Vergangenheit und der kolonialen Gegenwart, keine Träume, keine Hoffnungen, gefangen in bescheuerten Kleinkriegen, umzingelt von rassistischen Frenchies, regiert von Möchtegernmafiosi von Kanadas Gnaden. Doppelt gearscht ins Leben starten, das wünsche ich keinem.
Pierre Wabush ist verkatert, nicht bloß vom Suff, den Pillen, der heißen Nacht. Ihn macht das Reservat fertig, sein Zuhause. Keine Perspektive - was am Rassismus der Weißen ebenso liegt wie an der Korruption der eigenen Führung. Dabei erscheint Kitchike zunächst wie eine ganz normale Kleinstadt. Jeder kennt jeden, man tratscht, wurschtelt sich durch, man lebt.
Wenn Lydia, die die örtliche Tankstelle schmeißt, sonntags nach dem Kirchgang das halbe Kaff beobachtet und spitzzüngig kommentiert, könnten wir überall auf der Welt sein. Sind wir aber nicht. In Kitchike kann es passieren, dass die Göttin aus einer indigenen Legende einem Konzert lauscht und nachher mit dem Sänger flirtet ... während der Reservatschef Polizei und Mafia gegen sich hat, so dass er nun vor dem »großen Absturz« steht. Panisch sucht er nach Verbündeten, doch ganz Kitchike hat die Schnauze voll.
Louis-Karl Picard-Sioui, geb. 1976 in Québec, lebt in Wendake, ist Autor, Dichter, Performer und Visual-Arts-Künstler. Seit 2005 schreibt er Romane, Jugendbücher und Gedichte, hat Geschichte und Anthropologie studiert und leitet Kwahiatonhk!, eine Non-Profit-Organisation zur Förderung französischsprachiger indigener Literatur.
Sonja Finck, geb. 1978 in Moers, ist eine deutsch-kanadische Literaturübersetzerin und ausgebildete Artistin. Sie studierte in Düsseldorf und übersetzte seit 2004 dem Französischen, Englischen und Spanischen ins Deutsche.
Frank Heibert, geb. 1960 in Essen, ist Übersetzer, Autor und Musiker. Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik gründete er 1990 in Berlin den Zebra-Literaturverlag. Seit 1983 übersetzt er aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen.
Ich schnapp mir den Pulli vom Fernseher. Zieh die Socke an, die im Flur rumliegt. Aber wo ist ihre Zwillingsschwester? Ich such in der Wohnung rum wie ein Blöder und find sie nicht. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gestern beim Rausgehen nicht nur eine anhatte. Shit, ich will hier nicht den ganzen Tag rumhängen. Außerdem krieg ich langsam Hunger. Ich schleich zum Kühlschrank, hab den Griff schon in der Hand, da schreckt mich der Klingelton von meinem Handy auf. Scheiße, Mann. Sie hat mir auf die Mailbox gesprochen. Das hat mir grad noch gefehlt. Jetzt klingelt mich auch noch mein Magen an, also raff ich mich auf und öffne den Kühlschrank. Kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ganz oben, unter einem Päckchen mit geräuchertem Elchfleisch in Scheiben, liegt die fehlende Socke. Und, klar, ein gelbes Post-it. Überraschung! Bekloppt, diese Lydia. Wird Zeit, dass ich mich vom Acker mache. Ich zieh die Socke an, viel zu kalt, nicht schön, und schling ein paar Scheiben Elch runter. Ich glaub, das sollte ein Geschenk sein, und falls nicht: Rache ist süß.
Dann hab ich zugegebenermaßen einen kleinen Moment der Schwäche. Oder der Erkenntnis. Oder ist es Neugier? Egal. Auf ein- mal will ichs wissen, entsperr mein Handy und hör mir die Nachricht an. Ist gar nicht von Lydia, falls sie nicht über Nacht mutiert ist. Nee, von einem Typen, den ich ziemlich sicher nicht kenne: »Geronimo, der Alte sagt, du bist im Boot. Treffen im Halloway am 17. um Mitternacht. Erkennungszeichen lila Halstuch. Sei diskret.«
Mir läuft’s kalt den Rücken runter. Und das hat nix mit der Kühlschranksocke zu tun. Dann war das also nicht nur Gerede … Jetzt ist es so weit. Der Regimewechsel kommt. Die Gerechtigkeit Gottes wird unser Reservat treffen, und wies aussieht, wirst du derjenige sein, der das Schwert führt. Handeln, Pierre, nicht immer nur quatschen. Jetzt oder nie. Ich steck das Handy ein und geh zur Haustür. Aber bevor ich sie öffne, muss ich noch kurz vor dem Foto Halt machen, das neben der Tür hängt. Lydia posiert strahlend mit dem kleinen Waso auf dem Arm. Auf dem Bild ist er noch keine zwei. Hatte seine Narbe noch nicht. Schön war er da, vollkommen. Kitchike hat’s drauf, alles kaputtzumachen, was gut und schön ist. Dir den Bauch aufzuschlitzen, dass du durch deine eigenen Eingeweide watest. Mann, Wabush, auch wenn du dich nie fortpflanzen wolltest: Das liegt halt in der Natur des Menschen. Wir sind weiter da. Und es gibt kleine Scheißerchen wie Waso, die hier groß werden müssen, die hier überleben müssen.
Keine Ahnung, ob es an den Post-its liegt, dem geschenkten Elchfleisch, dem Matchbox-Ausrutscher oder einfach am Kater, aber auf einmal hab ich Tränen in den Augen. Bitterböse Tränen der Wut. Wenn ich in meinem Scheißleben irgendwas tun kann, damit unsere Kids in diesem Niemandsland von Reservat eine Chance kriegen - den Zug werd ich nicht verpassen, das schwör ich. Die Uhr tickt. Ich knalle die Tür zu. Pass bloß auf, Kitchike.
…
Jean-Paul Paul Jean-Pierre war arbeitslos. Er hatte durchaus schon gearbeitet, unzählige Berufe durchprobiert, aber nichts hatte ihm zugesagt. Jean-Paul Paul Jean-Pierre machte gern etwas mit den Händen, er war ein echter Handwerker, übte sein Handwerk aber nicht mehr aus. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nicht besonders gebildet. Vom Schulunterricht, den Zahlen und Buchstaben in den Büchern, dem ganzen »Stoff ohne Stoff«, wie er es nannte, war nichts in seinem Kopf hängen geblieben. Er erklärte sich das gern so, dass diese »Intellektuellereien« - davon war er überzeugt - nichts für Indianer waren.
Jean-Paul Paul Jean-Pierre war nämlich ein Indianer. Das Wort hatten die Weißen sich ausgedacht, als sie kapierten, dass Kolumbus nicht in Indien gelandet war, dass die Ureinwohner also keine Inder waren. Jean-Paul Paul Jean-Pierre war ein Indianer aus Nordamerika. Ein eingeborener autochthoner indigener nordamerikanischer Indianer, Angehöriger der Ersten Nationen der nord- amerikanischen Großen Schildkröte. Gebürtig aus Kitchike. Er stammte von hier, wohnte hier und hatte hier geheiratet wie seine Eltern, sich dann scheiden lassen und was mit der Freundin des Nachbarn angefangen. Anders als Jean-Paul Paul Jean-Pierres Eltern war die Freundin des Nachbarn nicht aus Kitchike. Natürlich war auch sie eine eingeborene autochthone indigene nordamerikanische Indianerin, Angehörige der Ersten Nationen der nordamerikanischen Großen Schildkröte, aber sie war eine Algonquin, besser gesagt, eine Anishnaabe. Vor allem kam sie aus der Stadt. Der echten, der wahren, der Großstadt. Nicht aus dem Provinznest nebenan, das die Leute von Kitchike für eine Stadt hielten. Die Freundin des Nachbarn kannte nur wenige Leute in Kitchike. Und als der charmante Nachbar sich immer mehr als ständig ausrastender Aggro-Alki entpuppt hatte, war sie eben zu Jean-Paul Paul Jean-Pierre weitergezogen. Und wie sie so auf seinem Sofa saß und keine Anstalten machte, es wieder zu verlassen, beschloss er, sich ihren Kummer und ihr Leid anzuhören und sie zu trösten. Und dann blieb sie einfach da, ein paar Stunden, eine Nacht, ein Jahr. Ließ sich in seinem Heim, Hirn und Handeln häuslich nieder.
Je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm jetzt alles. Die Freundin des Nachbarn - Julie-Frédérique - hatte sich eines schönen Morgens, als er gerade aufgestanden war, bei ihm eingerichtet und auf demselben Sofa Wurzeln geschlagen, wo nun das schwarze Loch klaffte. Jean-Paul Paul Jean-Pierre fragte sich, ob er die Sitzgelegenheit dafür loben sollte, dass sie Julie-Frédérique eingefangen hatte, oder dafür tadeln, dass sie jetzt das schwarze Loch in die Falle gelockt hatte. Dieses Möbel entwickelte wirklich schlimme Angewohnheiten. Es musste endlich gezähmt werden, um klarzustellen, wer hier der Herr im Haus war. Er musste sich Respekt verschaffen, doch Jean-Paul Paul Jean-Pierre hatte von der Psyche eines Sofas keine Ahnung. Er hatte von Psychologie insgesamt keine Ahnung. In Kitchike war das kein besonders weit verbreitetes Fachgebiet. Wollte man psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, musste man die Linie überqueren, die unsichtbare Grenze, die das Reservat von der benachbarten Ortschaft trennte. Diesen Graben hatte Jean- Paul Paul Jean-Pierre lange gesucht, nachdem er ihn als roten Strich auf der Landkarte des Ministeriums gesehen hatte. Und wenn einer die staubigen Straßen der Old Town in- und auswendig kannte, dann er. Die rote Linie hatte er konkret allerdings nie finden können. Nachdem er Landvermessern einmal live bei der Arbeit zugesehen hatte, lautete seine Schlussfolgerung, dass solche Linien offenbar nur mit den Spezialteleskopen dieses Berufsstandes sichtbar waren. Und auf diesem Instrument konnte Jean-Paul Paul Jean-Pierre nicht spielen.
Auch ohne genau zu wissen, wo die Linie verlief, überquerte Jean-Paul Paul Jean-Pierre sie ab und zu, wie alle Einwohner von Kitchike, um das bisschen Geld, das er im Reservat verdiente, bei seinen weißen Nachbarn auszugeben. Er verdiente selten mal was, und wenn, dann nur wenig, aber wie alle Einwohner von Kitchike gab er das, was er verdiente, bei seinen weißen Nachbarn aus. Früher hätte er gesagt »in der Stadt«, wie alle Einwohner von Kitchike. Aber dann hätte Julie-Frédérique wieder geschimpft. Sie hatte ihm beigebracht, dass eine Stadt etwas ganz anderes war, was aber offenbar die Einwohner von Kitchike, die nicht das Glück hatten, Zeit mit Julie-Frédérique zu verbringen, nicht wussten.
Wäre sie nur dagewesen. Wäre sie dagewesen, hätte Julie-Frédérique bestimmt gewusst, wie man das schwarze Loch wieder loswurde, das auf einmal noch ein bisschen dicker aussah, noch ein bisschen auffälliger, noch ein bisschen … schwärzer. Aber Julie-Frédérique war nicht da. Sie war am Morgen etwas früher aufgestanden, um ihren üblichen Schminkzirkus zu veranstalten - Frauen mussten immer alles furchtbar demonstrativ machen, davon war er überzeugt -, und war dann wortlos aus dem Haus gegangen, wie jeden Morgen seit fast einer Woche, um sich Beschäftigungen zu widmen, über die sie keine nähere Auskunft gab. Jean-Paul Paul Jean-Pierre wusste nicht, womit er es verdient hatte, dass sie ihn mit Schweigen strafte, aber - davon war er überzeugt - dieses schwarze Loch sollte vor ihrer Rückkehr besser verschwunden sein, wenn er wollte, dass sie ihm gnädigerweise wieder etwas Aufmerksamkeit zukommen ließ.
Jean-Paul Paul Jean-Pierre suchte verzweifelt nach einer Lösung für sein Problem. Er durchforstete sämtliche Winkel seines Hirns, ohne das schwarze Loch aus den Augen zu lassen, damit er auch ja nicht vergaß, wonach er suchte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, verblasste aber gleich wieder, als ihm einfiel, dass er gar nicht nach dem schwarzen Loch suchte, das war ja direkt vor seiner Nase, sondern nach einer Möglichkeit, es verschwinden zu lassen, bevor Julie-Frédérique zurückkam. Da Jean-Paul Paul Jean-Pierre in seinem Kopf keine Lösung fand, beschloss er, seine Wohnung zu durchsuchen. Vielleicht brachten ihn Julie-Frédériques Bücher auf eine Idee.
Louis-Karl Picard-Sioui:
Der große Absturz. Stories aus Kitchike
Aus dem Québec-Französischen
von Sonja Finck und Frank Heibert
Secession Verlag
184 S., geb., 20,00 €
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