Ein Kind wird im Grasland geboren

Ella Cara Delorias Roman dokumentiert das Leben der Dakota im 19. Jahrhundert

  • Lesedauer: 9 Min.

Das Zeltdorf war wieder auf Wanderschaft. Wann immer ein Ort abgenutzt war und unrein wurde oder wenn es Zeit war, das Jagdrevier zu wechseln oder anderswo die Früchte der jeweiligen Jahreszeit zu sammeln, befahl der Stammesrat den Umzug. Es war seine Aufgabe, für das Volk zu denken und zu planen, und in solch einem Fall mussten alle gehorchen. Zurückzubleiben bedeutete, schutzlos zu sein. Es war drückend heiß, die Luft erfüllt von feinem, trockenem Staub, der den Zug einhüllte und sich mit ihm fortbewegte, unaufhörlich aufgewirbelt von den Füßen der Menschen, den Hufen der Pferde und den Enden der Travoisstangen, die hinter den Packpferden über den Boden schrappten. Bergauf und bergab kroch die Kolonne und bahnte sich ihren Weg durch das unberührte Land.

Blue Bird, eine frisch verheiratete Frau, konnte sich kaum noch auf ihrem Pferd halten. Oh, endlich absteigen können! Aber sie durfte nichts sagen, solange es ihr Schwiegervater war, der vorausschritt und das Pferd führte, denn so verlangten es die verwandtschaftlichen Verhaltensregeln. Schließlich übergab er gnädigerweise seiner Frau den Strick und blieb einen Moment stehen, um mit einem Freund weitergehen zu können. »Jetzt kann ich reden. Auch sie ist eine Frau; sie versteht, wie es mir geht«, dachte Blue Bird. Aber sie wartete trotzdem noch eine Zeitlang, bis sie es wagte zu sprechen: »Schwiegermutter, lass mich absitzen. Ich muss zu Fuß gehen.«

Ella Cara Deloria

Ella Cara Deloria (1889-1971) war eine Dakota, die als Ethnologin Feldforschung in ihrem eigenen Stamm betrieb. So war es ihr möglich, Indianer, die das freie Leben auf der Prärie noch kannten, in ihrer Muttersprache zu befragen und sich detailliert aus erster Hand Auskunft über sämtliche Aspekte des Lebens der Dakota/Lakota in der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts geben zu lassen.

Die Quintessenz ihrer Forschungen hat sie in ihren Roman »Waterlily« einfließen lassen, der auf lebendige und fesselnde Weise das Leben einer jungen Dakota und ihrer Familie, schildert. Dabei wird der Alltag im tiyospaye, dem Verbund eng miteinander verwandter Familien innerhalb eines Zeltdorfes, ebenso in seiner ganzen Vielfalt dargestellt wie Zeremonien (Hunka, Sonnentanz), die Jagd, Abenteuer der Kinder und Jugendlichen, Kämpfe mit feindlichen Stämmen, Begegnungen mit Weißen …

Die indianische Linguistin und Anthropologin Ella Cara Deloria führte ein Leben, das zwischen ihren Eltern, Geschwistern und ihrer Wissenschaft hin- und hergerissen war. Sie wuchs in einem Reservat auf und besuchte dort bis zu ihrem 14. Lebensjahr die Missionsschule, ging dann auf eine weiterführende Schule und studierte von 1911 bis 1913 am Oberlin College in Ohio. Nach ihrer Ausbildung an einem Lehrerinnen-Seminar an der Columbia University machte sie 1915 ihren Abschluss und wurde 1923 Lehrerin für Sport und Tanz an der Haskell Indian School. Von 1955 bis 1958 leitete sie eine Missionsschule, arbeitete danach kurz für das Sioux Indian Museum in Rapid City und war stellvertretende Direktorin des W.H.-Over-Museums an der Universität von South Dakota

»Gut. Wenn es sein muss, dann laufe. Aber sag Bescheid, wenn du wieder reiten willst«, antwortete die Frau und fügte seufzend hinzu: »Ach, Kind, wir tun dir nichts Gutes damit, dass du heute reisen musst - aber versuch einfach, es zu ertragen. Wir haben schon drei Mal gerastet. Wenn wir das nächste Mal halten, sind wir am Ziel. Es kann nicht mehr weit sein.« Das war alles. Der Respekt voreinander, der ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis entsprach, hielt die beiden Frauen davon ab, frei über die Ursache ihres beiderseitigen Unbehagens zu sprechen. Blue Bird trat aus der Reihe und ging am Rand des Zuges neben ihr her, entschlossen, mitzuhalten. Aber sie fiel stetig zurück, und bald lief ihre Schwiegermutter, die in der Reihe geblieben war, weit vor ihr. Die Schwiegermutter murmelte vor sich hin: »Das ist eine Angelegenheit meiner Schwiegertochter. Wenn sie langsamer gehen will, ist das ihr gutes Recht.« Es stand ihr nicht zu, das Verhalten der Frau ihres Sohnes in Frage zu stellen, auch wenn sie am Verstand ihrer Schwiegertochter zu zweifeln begann. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es weiter hinten sicherlich Verwandte geben würde, die sich um das Mädchen kümmerten, falls es Hilfe bräuchte. Und so, verhalten optimistisch gestimmt, trottete sie weiter und versuchte, sich keine Sorgen zu machen.

Die Kolonne befand sich nun auf einem Bergrücken. Sie bewegte sich nach wie vor im gleichen Schneckentempo. Weit voraus schritten die vier Ratsmänner, die das Zeltdorf auf der Wanderschaft stets anzuführen pflegten. Die ganze Zeit trugen sie die Friedenspfeife mit erhobenen Armen vor sich her, um das Große Geheimnis versöhnlich zu stimmen. Sie waren es, die das Tempo vorgaben, immer mit Rücksicht auf die Alten und Gebrechlichen, die Frauen mit den Lasten auf dem Rücken und die Kinder mit ihren kurzen Beinen, die neben ihnen hertrotteten. Alle Männer im Vollbesitz ihrer Kräfte und alle verantwortungsbewussten Jungen waren zu Pferd als Kundschafter unterwegs. Einige ritten weit voraus, andere weit hinter der Kolonne und wieder andere begleiteten die Wandernden zu beiden Seiten, aber außer Sichtweite, so dass der Zug für sich allein durch die Landschaft zu ziehen schien. Doch unaufhörlich hielten die Späher Ausschau nach Gefahr, und von Zeit zu Zeit ritt der eine oder andere von ihnen auf einen weit entfernten Berggipfel, um mit aufmerksamem Blick die dahinterliegende Landschaft zu durchforschen.

Gequält schaute sich Blue Bird um. Zur Linken fiel der Bergrücken schroff ab. Dort waren Baumwipfel zu sehen. Das bedeutete Wasser - oder zumindest versprach es einen abgeschiedenen Ort. Sie musste gehen; es war so weit. Sie wandte sich zur Seite und lief eilig den Hang hinunter, zu einem Teich. Niemand schien auf ihr Verschwinden zu achten. Der Anstand gebot es Erwachsenen, immer, wenn sie den Drang dazu verspürten, den Zug zu verlassen und sich außer Sicht zu begeben. Kleinere Kinder und manchmal auch sehr alte Leute, denen nichts mehr wirklich wichtig schien, nahmen es damit nicht so genau, und das wurde von ihnen auch nicht erwartet. Die Teton waren anständige und zugleich verständnisvolle Leute. Kalter Schweiß stand dem Mädchen auf der Stirn. Alles schien sich um sie herum zu drehen, aber sie versuchte, klar zu denken. Was hatte ihre Großmutter einst erzählt? Irgendwas über die beste Körperhaltung, um eine leichte Geburt einzuleiten? Oder war es eine schnelle Geburt? Was bedeutete das eigentlich? Verwirrt versuchte sie, sich zu erinnern. Plötzlich kam die Erinnerung wie ein Blitz. Und da war noch etwas, was die Großmutter gesagt hatte: »Keine Frau schreit wie ein Baby; die Leute spotten darüber. Ein Kind in sich zu tragen ist großartig. Wenn man alt genug ist, ein Kind zu gebären, ist man auch alt genug, das schweigend zu erdulden.«

Mit verzweifelter Hartnäckigkeit klammerte sich Blue Bird an die Worte ihrer Großmutter, und obwohl sie vollkommen allein war, ließ sie kein Stöhnen vernehmen. Eine Ewigkeit verging - und endlich! - Es war ein Mädchen … Dies drang wie durch Nebel in ihr Bewusstsein, als sie das Neugeborene von dem weichen Gras aufhob, auf dem es lag. Sie tastete nach ihrem Messer, das in seiner Scheide am Gürtel hing. Sauber und schnell durchtrennte sie die Nabelschnur, wie es nach den Worten der alten Frauen zu geschehen hatte. Sie selbst hatte so etwas noch nie gesehen. Unverheiratete junge Frauen durften bei einer Geburt nicht anwesend sein.

Noch immer ganz benommen, wickelte Blue Bird ihr Kind in das Fell eines Rehkitzes, welches sie in aller Heimlichkeit vorbereitet hatte. Viele Stunden lang hatte sie es bearbeitet, damit es weiß, weich und geschmeidig wurde. Für genau diese Stunde hatte sie es stets bei sich getragen. Als nächstes zog sie sich ein frisches Kleid an, wickelte Plazenta und Nabelschnur in das abgelegte Gewand und band es zu einem ordentlichen Bündel zusammen. Dann, mit schier übermenschlicher Anstrengung, reckte sie sich und legte das Bündel in die Astgabel eines Baumes, außerhalb der Reichweite von Tieren, die es hätten entweihen können. Das wurde für jedes Neugeborene getan, damit es aufrecht und mit klarem Verstand aufwüchse. Jeder wusste das, denn es war ein uraltes Gebot.

Sie kniete am Ufer des Teichs nieder, um ihre befleckten Hände zu waschen. Dann, sie wusste selbst nicht, warum, ließ sie vorsichtig ein paar Tropfen auf das kleine Gesicht regnen, welches so schön in ihre hohle Hand passte. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich nicht auf das Wunder in ihren Armen konzentrieren. Überall waren Seerosen in voller Blüte, die sie unwiderstehlich in ihren Bann schlugen. Wie wunderschön sie waren! Wie sie ihr mehr und mehr die Augen zu öffnen schienen, je länger sie sie betrachtete! Als ob sie sie aufforderten, ihre äußere Form zu durchdringen und ihr Wesen zu erfassen. Blue Birds Blick wanderte von einer zur anderen, und plötzlich war es ihr nicht mehr möglich, die Blüten vom Gesicht ihres Babys zu unterscheiden. Ein unbekanntes Gefühl stieg in ihr hoch, das ihr fast den Atem raubte, und dann konnte sie es endlich zum Ausdruck bringen: »Meine Tochter! Meine Tochter!«, rief sie. »Wie wunderschön du bist! So wunderschön wie diese Seerosen. Du bist meine Waterlily, meine Waterlily!« Sie schluchzte vor Freude. Die kühlen Wasserspritzer hatten das Baby erschreckt, und es begann, energisch zu strampeln und sein Köpfchen schnell hin und her zu bewegen. Und dann - ein Wunder! - schaute es zu seiner Mutter auf und lächelte. Sogleich vergaß Blue Bird alle Sorgen; selbst ihr unglückliches Leben mit einem töricht eifersüchtigen Ehemann war für einen Moment vergessen.

Das Baby fest an ihr Herz gedrückt, schloss sie sich dem Wanderzug wieder an. Es gelang ihr, die einer Frau angemessene Gefasstheit zu bewahren, mit größter Mühe zwar, aber letztendlich war ihr selbst der noch immer anhaltende Geburtsschmerz eine Freude. Ihre Rückkehr zum Wanderzug erregte keine größere Aufmerksamkeit. Im Grunde waren junge Frauen mit Babys auf dem Arm eher die Regel als eine Ausnahme. Außerdem waren die Leute am Ende des Zuges nicht diejenigen, die bemerkt hatten, wie sie die Reihe verlassen hatte.

Blue Bird fühlte sich weder in ihrer Ehe noch in diesem Lagerkreis, der nicht der ihre war, besonders glücklich. Nicht, dass die Leute je unfreundlich gewesen wären; ganz im Gegenteil. Doch es war ihr nicht möglich, sich an diesem Ort wohlzufühlen. Nie hatte sie aufgehört, sich nach ihren eigenen Leuten zu sehnen. Inzwischen waren es fast vier Jahre, dass sie und ihre Großmutter hier weilten. Manchmal wünschte sie, sie hätte alles auf eine Karte gesetzt und wäre allein aufgebrochen, ihr eigenes Zeltdorf zu suchen. Selbst, wenn es sie das Leben gekostet hätte, es wäre das Wagnis wert gewesen. Wie ein Traum entschwunden war die Zeit der glücklichen Kindheit unter ihren vielen liebevollen Verwandten. Vergeblich versuchte sie, das Gefühl jenes unbeschwerten Lebens zurückzuerlangen, das ihr einst auf so grausame Weise genommen worden war. Heute Abend aber, mit dem schlafenden Baby Waterlily an ihrer Seite, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder vollkommen glücklich. Es war eine andere Art des Glücks, erfüllend, wenn auch gedämpft. Aber es war gut. Sie lag, untätig, sich ganz ihren Erinnerungen hingebend, in der Dunkelheit des Zeltes ihrer Cousine, die irgendwo unterwegs war. Mit ungewöhnlicher Distanziertheit konnte sie sich zum ersten Mal in allen Einzelheiten an die Ereignisse des tragischen Tages erinnern, der sie ihrer Familie beraubt hatte. Heute Abend wirkte alles so weit weg, als wäre es vor langer Zeit an einem fernen Ort jemand ganz anderem widerfahren.

Sie war vierzehn Jahre alt gewesen. Ihr Vater hatte beschlossen, das Zeltdorf für ein paar Tage zu verlassen, um jagen zu gehen. Der Vorrat an Fleisch ging rasch zur Neige, und schon lange waren keine Büffel mehr gesichtet worden. Seine Frau, seine Mutter und seine drei Kinder, Blue Bird und ihre Brüder, zehn und sechs Jahre alt, begleiteten ihn.

Ella Cara Deloria:
Waterlily
Aus dem Englischen von Frank Elstner und Uta Millner
Palisander Verlag
376 S., geb., 22,90 €

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