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Schießen, schießen, schießen

Die Dokumentation »Immigration Nation« begleitet drei Jahre lang Täter und Betroffene einer zusehends unmenschlichen Einwanderungspolitik in den USA. Ein Rückblick auf die Legislaturperiode Donald Trumps

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt bekanntlich ein ganzes Erbregister an Vermächtnissen, die der ehemalige US-Präsident Donald Trump der Welt hinterlassen hat: hohe Mauern und tiefe Gräben, Hass und Lüge als politische Kernbotschaften - und natürlich ein rassistisches System nationaler Abschottung, nicht besser zu dokumentieren als mit dieser Szene am Beginn der Dokumentarreihe »Immigration Nation«, die zwar schon vor Trumps Abwahl online ging, aber auch noch unter dem US-Präsidenten Joe Biden wirkt.

Als Einheiten der United States Immigration and Customs Enforcement (ICE) des Nachts schwer bewaffnet die Wohnung einer geflüchteten Familie stürmen und einen »Hausdurchsuchungsbefehl oder was Schriftliches« vorlegen sollen, lehnt der Einsatzleiter ab: »Wenn ich keinen hätte, wären wir ja nicht hier.« Kein Wunder, dass ICE im sogenannten Krieg gegen Einwanderer so redet: Trump saß sechs Tage im Oval Office, da unterzeichnete er schon ein Dekret, das die USA aufwühlt wie rassistische Polizeigewalt, nur im Verborgenen: Statt nur Schwerverbrecher sollen nun alle illegalisierten und undokumentierten Menschen abgeschoben werden. Schnell, alternativlos, falls nötig gewaltsam.

Ein paar davon haben die Filmemacher Christina Clusiau und Shaul Schwarz für ihre Langzeitreportage »Immigration Nation« rund drei Jahre lang begleitet. Im sechsteiligen Resultat sind sie also dabei, wenn arglose Einwanderer nach Jahren unbehelligter Drecksarbeit für den Wohlstand anderer des Nachts aus dem Schlaf heraus in Ketten gelegt werden. Sie sind dabei, wenn Eltern in El Paso von ihren Kindern getrennt werden. Sie sind dabei, wenn unkooperative Sheriffs in Charlotte drangsaliert werden. Sie sind dabei, wenn die Spezialkräfte zwar Skrupel zeigen, sich zugleich aber nicht selten selbst entlarven: »Ich stelle meine persönlichen Gefühle beiseite«, sagt einer im scheinbaren Fronteinsatz, »was, yeah, vielleicht auch jeder Nazi sagt, richtig?« Kein Wunder, dass sich ICE wie Eis ausspricht.

Er geht, aber er verschwindet nicht. Das vergiftete Erbe von Donald Trumps Präsidentschaft - eine erste Bilanz.

Gut 360 schwer verdauliche Minuten hält die Kamera unerbittlich drauf, wann immer die Sonderabteilung des Ministeriums für innere Sicherheit ihr gesetzlich konformes, aber inhumanes Werk verrichtet. Kein Off-Kommentar bewertet das Gezeigte, kein Schnittwechsel potenziert die Dramatik, selbst der Begleitsound bleibt dezent im Hintergrund, als wolle er die Bilder nicht weiter stören. Trotz der erschütternden Thematik ist »Immigration Nation«, und hier liegt das Herausragende dieser Langzeitbeobachtung, verblüffend nüchtern.

Subjektive, womöglich gar links motivierte Überspitzungen der Verhältnisse unter dem abgewählten Reaktionär im Weißen Haus wären unnötig: Denn von Beginn seiner Präsidentschaft an hatte Trump unmissverständlich klargemacht, sein Kampf gegen illegalisierte Einwanderung sei vordringlich. Bestand ICE nach Gründung infolge der Anschläge vom 11. September 2001 zunächst aus acht Einheiten, stockte er sie zu Beginn der Dreharbeiten Anfang 2018 auf irritierende 123 auf und ließ 10 000 neue ICE-Auszubildende in Camps sammeln, wo sie vor allem eines lernen: Schießen. Schießen. Schießen.

Auch deshalb hat ICE nach Berichten der »New York Times« Netflix offenbar unter Druck gesetzt, um diverse Passagen zu entfernen und den Sendestart zu verlegen. Wobei spätestens an dieser Stelle die erstaunliche Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten betont werden muss, vom Abschiebehäftling übers Wachpersonal bis hin zum Asylanwalt. In Deutschland würde jedes Filmteam an einer Schrankwand behördlicher Einsprüche abprallen, bevor es der Exekutive mitsamt ihren Objekten derart nahe kommen könnte.

So blickt das Publikum nicht nur Menschen ins verheulte Gesicht, denen der Staat ohne Aussicht auf Wiedersehen die Kinder weggenommen hat; es sitzt auch im Auto, wenn ICE-Beamte von Pflichtbewusstsein, Kollateralschäden und Quotenerfüllung faseln, als ginge es um Waren statt Menschen. Schwer zu glauben, aber wahr: Wer »Immigration Nation« bis zum bitteren Ende durchhält, findet die Jahre der USA unter dem nimmermüden Staatszersetzer Trump womöglich sogar noch furchteinflößender als ohnehin schon. Und ob es nun unter Biden besser werden wird?

»Immigration Nation« auf Netflix

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