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Auf einen Kaffee mit der Arbeiterführerin
Der Leipziger Felsenkeller ist ein Erinnerungsort an die vor 150 Jahren geborene Rosa Luxemburg. Dort entstand eine ihrer großen Reden
Rollt Rosa etwa mit den Augen? Oder lässt sie nur neugierig den Blick über die Kaffeehaustische im Leipziger »Felsenkeller« schweifen? Wie auch immer: Rosa Luxemburg schaut aus dem Bild, das der Grafiker und Illustrator Marcel Bontempi von ihr geschaffen hat, mal in diese und mal in jene Richtung. Dass die Augen in dem ansonsten klassischen Porträt beweglich angebracht sind, sei ein kleiner Scherz, den man sich bei aller Verehrung für die vor genau 150 Jahren geborene Arbeiterführerin erlaube, sagt Jörg Folta: »Ein wenig Ironie darf sein.«
Folta hat einst Neuere deutsche Geschichte studiert und sich dabei auch mit der deutschen Arbeiterbewegung beschäftigt. Jetzt ist er Chef eines renommierten Leipziger Kulturhauses, das einst ein beliebter Versammlungsort dieser Bewegung war: der Felsenkeller, ein imposanter Bau mit viel Stuck und einer barock wirkenden Kuppel, die über einer stark befahrenen Kreuzung im Leipziger Westen thront. Er wurde von einer Brauerei errichtet und 1890 eingeweiht, war mit Biergarten, Kino und einem großen Saal für über 1000 Gäste ein Ort für ausgelassene Vergnügung, etablierte sich aber auch als Lokal für politische Veranstaltungen der Leipziger Sozialdemokratie. Deren örtliche Sektionen luden immer wieder bekannte Redner in den Felsenkeller ein: Karl Liebknecht, Clara Zetkin - und Rosa Luxemburg. Bevor diese am 27. Mai 1913 zum zweiten Mal in dem Saal ans Rednerinnenpult trat, schrieb die »Leipziger Volkszeitung« (LVZ): »Wir erwarten, dass die Arbeiterschaft diese Veranstaltung in Massen besucht.«
Diejenigen, die den Felsenkeller in jüngerer Zeit besuchten - vor Corona durchaus in Massen -, gehören vermutlich nur zum eher kleineren Teil der klassischen Arbeiterschaft an. Zwar ist der Stadtteil Plagwitz, der etwas weiter westlich beginnt, noch immer ein industrielles Herz Leipzigs; Belegschaften von Firmen wie Halberg Guss oder Siemens sorgten in jüngerer Zeit auch mit kämpferischen Aktionen bis hin zum Streik für Aufsehen. In anderen Gebäuden, die zu Luxemburgs Zeiten noch Fabriken waren, sind heute freilich Büros von Kreativen und Internetfirmen untergebracht. Revolutionärer Geist weht nicht unbedingt durch das Viertel, das zu den angesagteren Gegenden Leipzigs zählt und eine hohe Dichte veganer Lokale und Bioläden aufweist. Der Felsenkeller, der nach 1990 einige triste Jahre durchmachte, als Teppichmarkt herhalten musste oder gänzlich leer stand, gilt den Anwohnern seit seiner Wiedereröffnung 2014 erneut als Ort ausgelassener Vergnügungen: mit Konzerten, Lesungen und Comedy im Saal oder Bier und Aperol Spritz unter den ausladenden Bäumen im Biergarten.
Allerdings wollen Jörg Folta und seine Mitstreiter das Traditionslokal »nicht wie eine beliebige Mehrzweckhalle betreiben« . Es sei ihnen wichtig, die große - und linke - Geschichte des Hauses zu erzählen, betont dessen Chef. Ein Anliegen, das auf offene Ohren stößt: »Unsere Tradition ist, was die Leute am meisten interessiert.« Wichtige Stationen sind seit einigen Monaten auf einem Historienpanorama voller Fotos, Dokumente und Postkarten zu studieren, das im Foyer und in Kopie im Biergarten steht. Die Spanne reicht von einem Inserat für das »größte Vergnügungsetablissement in Plagwitz« aus der Gründerzeit über ein Bild, auf dem Menschen dicht gedrängt einer politischen Veranstaltung beiwohnen, bis zu Plakaten, die jüngere Auftritte des 2019 verstorbenen Autors Wiglaf Droste oder der Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht ankündigten.
Eine Figur, die beim Blick in die Geschichte zunehmend im Mittelpunkt steht, ist Rosa Luxemburg. Ihr ist ein ganzer Raum gewidmet: eine Art Kabinett mit Kronleuchter und Stuckdecke neben einem gerade im Umbau befindlichen Pub. Vor der Backsteinwand inmitten eines hohen Bücherregals hängt das Porträtbild mit den beweglichen Augen. Der Raum wurde auf den Namen »Rosas Salon« getauft und soll, wie Folta betont, durchaus nicht nur historisierende Kulisse für Kneipenplausch sein, sondern zu ernsthafter Beschäftigung mit Luxemburg einladen. In den Regalen stehen Werkausgaben und Bände mit gesammelten Briefen, wissenschaftliche Publikationen über die Theoretikerin der Arbeiterbewegung und eine Kopie des Herbariums, das diese im Gefängnis anlegte. Einige seiner Blätter sollen später die Wände zieren. Ergänzt wird der Salon durch ein »Denkzeichen«, das an diesem Freitag anlässlich des 150. Geburtstags auf dem Gehweg vor dem Felsenkeller eingeweiht wird: eine Granitplatte mit Edelstahlbuchstaben, die an Luxemburgs Rede von 1913 erinnern.
Damit ist ein Erinnerungsort entstanden, der durchaus besonders ist: »Es ist vermutlich der einzige an einem Platz, der tatsächlich mit Rosa Luxemburgs Leben verbunden ist«, sagt Volker Külow, Historiker und Ex-Stadtchef der Leipziger Linken. Zum Beleg verweist er auf eine Liste aller Erinnerungsstätten, die angesichts der Bedeutung Luxemburgs für die internationale Arbeiterbewegung verblüffend kurz ist. Es gibt eine Tafel an einem einstigen Wohnhaus in Poznán und eine weitere am vermeintlichen Geburtshaus im ebenfalls polnischen Zamość, die aber 2018 abgenommen wurde. Es gibt in Berlin eine Plastik, die bis vor Kurzem vor dem nd-Gebäude in Berlin stand und demnächst am neuen Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung ihren Platz finden soll. Eine Tafel am Landwehrkanal, in den Luxemburgs Leiche nach ihrer Ermordung durch Freikorpssoldaten am 15. Januar 1919 geworfen wurde, ein Denkzeichen am Rosa-Luxemburg-Platz und ihre Grabstätte auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin. Aufgeführt sind zudem ein Denkmal in Dresden, eine Büste vor der zeitweilig nach ihr benannten Fachschule der Post in Leipzig und ein Gedenkstein für Luxemburg und Karl Liebknecht im Örtchen Lindhardt bei Leipzig. »Das ist schon alles«, sagt Külow: »Mehr ist uns nicht bekannt.«
Leipzig und der Felsenkeller könnten für Menschen, die Luxemburg ehren und schätzen, künftig also wichtige Orte werden - obwohl die Stadt für sie selbst keine besondere Bedeutung hatte. Es sei »eine Stadt unter vielen« gewesen, schreibt der Literaturhistoriker Erhard Hexelschneider in einer Publikation über »Rosa Luxemburg und Leipzig«, die 2007 erschien, in einer Publikationsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, die in Leipzig herausgegeben wird und Kennern als wichtiger Beitrag zur Forschung über Luxemburg gilt. Hexelschneider merkt an, dass die Politikerin in ihren nicht ganz 48 Lebensjahren zwar in vielen Metropolen von Warschau über Zürich und Genf bis Berlin wohnte und dass sie noch viele mehr bereiste. Es war aber ein unstetes Leben; viele Orte kannte sie nur von »Agitationsreisen«.
Auch im Dezember 1911, als Luxemburg erstmals im Felsenkeller auftrat, war sie auf Wahlkampftournee in Sachsen und trat binnen 13 Tagen in zwölf Städten auf; zuvor wohnte sie vier Tage in einem Hotel in Leipzig. Ein Brief aus dieser Zeit belegt die Beobachtung Hexelschneiders, dass Orte dabei nicht nach ihren Sehenswürdigkeiten beurteilt wurden, sondern nach der Qualität der Unterkünfte und nach Komfort. Leipzig kam dabei in jenem Dezember nicht gut weg: Sie fühle sich, schrieb Luxemburg an Kostja Zetkin, »wie ein herrenloser Hund. Alles fremd, kalt, ungemütlich, lästige Menschen, kein eigenes Zimmer, scheußlich«.
Die Beziehung zwischen der Arbeiterführerin und der sächsischen Hochburg der Arbeiterbewegung, in der Ferdinand Lasalle im Mai 1863 immerhin den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) gegründet hatte, hätte durchaus enger werden können. Luxemburg war regelmäßige Autorin der LVZ, einer 1894 gegründeten Tageszeitung, die 1910 bereits 48 000 Abonnenten hatte, laut Hexelschneider damals noch ein »Prinzipienblatt radikal marxistischer Prägung« war und von Luxemburg eine »prächtige Zeitung« genannt wurde. Sie pflegte enge persönliche Kontakte zu Chefredakteur Bruno Schoenlank und besuchte diesen zu Pfingsten 1899 in seiner Wohnung in der Braustraße 5, nur wenige Meter neben dem Haus, in dem bis 1881 die Familie Liebknecht gewohnt hatte und wo ihr späterer Kampfgefährte Karl Liebknecht geboren wurde; dort hat heute Leipzigs Linkspartei ihren Sitz. 1901 starb Schoenlank; Luxemburg sollte ihm in der Position an der Spitze des Blattes folgen. Sie erwog bereits einen Umzug und versuchte im Februar 1902, ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches den Wegzug aus einem ruhigen Berliner Stadtteil schmackhaft zu machen: »Dass man überhaupt in Leipzig ebenso still und behaglich leben kann wie in Friedenau, daran zweifelst Du doch nicht.« Allerdings kam es binnen kurzem zu einem Zerwürfnis mit Franz Mehring, mit dem sie sich den Posten bei der LVZ teilte. Sie kehrte zum Status als freie Autorin zurück; aus der erträumten kleinen Leipziger Wohnung »im Villenquartier am Wald« wurde nichts.
So beschränken sich die Kontakte zwischen Luxemburg und Leipzig auf ein gutes Dutzend Aufenthalte, die selten mehr als einen Tag dauerten: private Besuche, Arbeitstermine bei der LVZ - und politische Auftritte, in der Regel als Rednerin. Sechs davon sind belegt: im »Pantheon«, wo der ADAV gegründet worden war, das aber heute nicht mehr existiert; im »Volkshaus«, in dem jetzt die Leipziger Gewerkschaften ihren Sitz haben - und im Felsenkeller. Sie trat dabei jeweils vor gut gefüllten Häusern auf. Luxemburg wurde ihrem 1898 formulierten Anspruch, »zu den besten Parteirednern gehören« zu wollen, zunehmend gerecht. Sie hielt sich zugute, auf der Tribüne so ruhig zu sein, »als würde ich mindestens 20 Jahre lang auftreten, ich fühle nicht das geringste Lampenfieber«. Ihre frei vorgetragenen, anfangs auswendig gelernten Vorträge zogen die Massen an. Über die Rede am 27. Mai 1913 schrieb die LVZ, die diese im folgenden in einem »gedrängten Bericht des Referats« abdruckte: »Die Versammlung war ganz außergewöhnlich stark besucht; in den Gängen standen die Besucher Kopf an Kopf.«
Der Vortrag, den Luxemburg im Mai 1913 in Leipzig hielt, ist »einer ihrer wichtigsten«, meint Volker Külow. Er hatte »die weltpolitische Lage« zum Thema und enthält Sätze, die nichts an Sprengkraft eingebüßt haben. Es ging um das dem kapitalistischen System innewohnende Streben nach militärischer Konfrontation - und um die Position der Arbeiterklasse und der Sozialdemokratie dazu. Rüstung, sagte Luxemburg, sei eine »naturnotwendige Konsequenz« der ökonomischen Entwicklung: »Solange das Kapital herrscht, werden Rüstungen und Krieg nicht aufhören.« Sie sprach von der »alten Binsenweisheit, dass, wo zwei oder drei kapitalistische Staaten die Köpfe zusammenstecken, es sich immer um die Haut eines vierten kapitalistischen Staates handelt«. Es gehöre »Naivität« dazu, von einem Bündnis solcher Staaten zu erwarten, »es sollte eine Gewähr sein für den Frieden«.
Es sind Sätze, die nachhallen - bis in jüngste Debatten in der politischen Linken. Es sind auch Sätze, deren bitterer Wahrheitsgehalt unmittelbar vor dem Felsenkeller bestätigt wurde: etwas weniger als 32 Jahre später, am 18. April 1945. An dem Tag wurde Leipzig durch US-amerikanische Truppen eingenommen; es waren die letzten Tage der NS-Diktatur und eines von dieser entfesselten Krieges, wie ihn sich wohl auch Luxemburg in seiner Grausamkeit nicht hätte ausmalen können. Eine Panzerfaust, die Hitlerjungen vermutlich sogar aus dem Felsenkeller abfeuerten, traf auf der anderen Straßenseite einen US-Panzer, in dem fünf Soldaten starben. Ein Gedenkort erinnert heute an den Vorfall; ein Foto zeigt die markante Kuppel des Felsenkellers über einer Menschenmenge, die um das Wrack des Panzers herum steht.
Es gibt, sagt Jörg Folta, viel Geschichte zu erleben rund um den Felsenkeller. Gleich gegenüber steht das einstige Wohnhaus des SPD-Politikers Erich Zeigner; er führte 1923 in Sachsen ein Kabinett an, in dem auch zwei KPD-Politiker saßen. Das Capa-Haus ist nicht weit, in dem der US-Fotograf Robert Capa ebenfalls am 18. April 1945 eine legendäre Fotoserie über den vermeintlich »letzten Toten des Zweiten Weltkriegs« aufnahm. »Ein historischer Parcours«, sagt Folta - dessen Ausgangs- und Endpunkt der Felsenkeller sein könnte und darin »Rosas Salon«. Dort wird man, so hofft der Betreiber, bald wieder sitzen, Kaffee trinken und plaudern können - und unter den wachsamen, beweglichen Augen der Autorin in den Werken und Briefen von Luxemburg blättern. Es geht um das Erinnern und Gedenken, aber auch darum, die große Arbeiterführerin überhaupt kennenzulernen. »Viele unserer jungen Gäste«, sagt Folta, »haben ja kaum einen Bezug zu ihr.«
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