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Gewalt im Sozialamt
Flüchtling steht vor Gericht, weil er die Kürzung seines Geldes nicht akzeptierte
Lazare M. soll im Sozialamt des Landkreises Märkisch-Oderland Widerstand gegen Polizisten geleistet, um sich getreten und neben Beamten auch einen Wachmann schmerzhaft getroffen haben. So lautet der Vorwurf. Deshalb steht der 29-jährige Flüchtling aus Kamerun, der in einem Asylheim in Gusow-Platkow lebt, am Dienstag vor dem Amtsgericht Frankfurt (Oder). Das Verfahren wird am 16. März fortgesetzt.
Man könnte die Geschichte aber auch andersherum erzählen. Demnach haben die Polizisten dem Kameruner auf den Kopf geschlagen und ihm in die Rippen geboxt, dass ihm die Sinne schwanden. Und eine Mitarbeiterin des Sozialamts soll dem jungen Mann mit einem Kugelschreiber in die Hand gestochen haben, damit er sich nicht weiter am Schlitz in der Scheibe des Schalterraums festklammert. Lazare M. hat deswegen seinerseits Anzeige erstattet. In dieser Angelegenheit sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Das führt dazu, dass die betroffenen Polizisten und die Sozialamtsmitarbeiterin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen, um sich nicht selbst zu belasten. Sie werden also im Prozess gegen Lazare M. nicht aussagen.
Zugetragen hat sich die Rangelei – denn die hat es unzweifelhaft gegeben – am 4. November 2019. In einer Erklärung, die sein Rechtsanwalt Carsten Ilius am Dienstag im Saal 203 des Amtsgerichts verliest, erzählt Lazare M., wie es dazu kam, und schildert seine Sicht der Dinge.
Vorab muss man wissen: Märkisch-Oderland überweist die Sozialleistungen, anders als viele andere Landkreise, nicht auf ein Konto der Flüchtlinge. Sie müssen einmal im Monat an einem festgesetzten Termin nach Diedersdorf in die Behörde kommen. Dort erhalten sie einen Scheck und können sich das Geld im selben Gebäude an einem Schalter der Sparkasse auszahlen lassen. Auch in der Coronakrise hat sich an dieser schon lange umstrittenen Praxis nichts geändert.
Lazare M. hätte am 7. Oktober 2019 kommen müssen. Am Tag zuvor plagten ihn aber heftige Bauchschmerzen. Eine elektronische Gesundheitskarte hatte er jedoch nicht und im Asylheim habe man sich geweigert, ihm einen Krankenwagen zu rufen, berichtet er. Am nächsten Morgen sei es ihm besser gegangen. Er sei nach Berlin gefahren, um von seinem Rechtsanwalt Hilfe zu erhalten, damit sich so etwas nicht wiederholt. Den Anwalt traf er allerdings nicht an. Weil Schienenersatzverkehr bestand, sei er nicht mehr innerhalb der Öffnungszeiten des Sozialamts bis nach Diedersdorf gelangt. Er fuhr am nächstmöglichen Termin, dem 10. Oktober, hin und erklärte seine Verspätung um drei Tage. Man zahlte Lazare M. die ihm monatlich zustehenden 310 Euro aus. Er sollte aber das nächste Mal, am 4. November, einen Entschuldigungszettel von seinem Anwalt mitbringen. Eine schwierige Aufgabe, denn er hatte ja niemanden angetroffen. Der Flüchtling versuchte dennoch, wenigstens von seinem Anwalt bescheinigt zu bekommen, dass dieser am 7. Oktober nicht in seinem Büro gewesen sei. Aber Lazare M. konnte den Juristen auch bis zum 4. November nicht erreichen.
Darum sollte er sich, als er am selben Tag in Diedersdorf zum Termin kam, mit 103 Euro begnügen, den Empfang der Summe quittieren und den Schalter frei machen. Der Flüchtling wollte aber ohne die volle Summe nicht gehen. »Auf dieses Geld war und bin ich angewiesen«, steht in seiner im Gericht verlesenen Erklärung. Das Sozialamt rief die Polizei. Eine Polizistin redete Lazare M. zu, er solle den Scheck über 103 Euro nehmen und vom Schalter zurücktreten. Man könne draußen weiter diskutieren. Doch Lazare M. war verzweifelt und ließ sich nicht hinausführen, klammerte sich schließlich am Schalter fest. In einem Video, das ein Beobachter der Szene filmte, sieht man, wie ein Polizist mit der Faust wuchtig auf den Oberarm des Flüchtlings eindrischt. Die Beamten können ihn wegziehen, aber er reißt sich los und krallt sich erneut an der Scheibe fest. Im Flur versuchen andere Polizisten, das Filmen der Szene zu unterbinden. Schließlich fällt die Tür zu. Dass Lazare M. getreten und geschlagen hätte, sieht man in diesem Video nicht. Vom rechtlichen Standpunkt ist allerdings bereits strafbar, dass er nicht sofort friedlich mitgegangen ist.
Dennoch bleibt fraglich, ob die rohe Polizeigewalt angemessen war. Unvermeidlich war sie nicht. Denn es hat sich inzwischen in einem Widerspruchsverfahren herausgestellt, dass das Sozialamt die Auszahlung der 310 Euro im konkreten Fall gar nicht hätte verweigern dürfen, wie am Dienstag am Rande des Gerichtsverfahrens erläutert wurde. Hätte der Flüchtling aber sein Geld erhalten, wäre allen der jetzt nachfolgende Ärger erspart geblieben. Dass die Flüchtlinge sich ihre Stütze in der Coronakrise immer noch persönlich abholen müssen, sei »vollständig absurd«, meint der Landtagsabgeordnete Andreas Büttner (Linke).
Seit dem 4. November 2019 schläft Lazare M. schlecht. Ihn plagen Albträume, und wenn er Polizisten auf der Straße sieht, bekommt er Angst. »Die Vorfälle belasten mich sehr«, berichtet er. Der Verein Opferperspektive betreut ihn.
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