»Die äußere Welt war nur noch Erinnerung«

Xinyi Cheng zeigt in ihrer Ausstellung »The Horse with Eye Blinders« im Hamburger Bahnhof in Berlin Bilder von Freund*innen und alltäglichen Situationen, die auch einen Blick ins Innere werfen

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit Dezember hängen 30 Ihrer Bilder im derzeit geschlossenen Hamburger Bahnhof. Es ist Ihre erste Einzelausstellung in einem Museum. Wahrscheinlich wünschen Sie sich, dass demnächst Besucher*innen kommen können?

Ja, das ist ein sehr komisches Gefühl. Ich war froh, im Dezember nach Berlin kommen und die Ausstellung aufbauen zu können, nachdem ich ein Jahr daran gearbeitet hatte. Ich zeige zwar auch ältere Werke, aber viele Bilder sind 2020 entstanden. Die Ausstellung vorzubereiten, die Werke abzuliefern und sie aufhängen zu können, fühlte sich gut an. Aber jetzt ist es komisch, sie in dem geschlossenen Museum zu haben. Das hat etwas Ungeklärtes. Aber es fühlt sich auch so an, als stünden die Arbeiten im Austausch miteinander.

Xinyi Cheng

1989 im chinesischen Wuhan geboren, studierte sie Bildhauerei an der Kunsthochschule in Peking. Sie lebt in Paris und wurde 2019 mit dem Baloise-Kunst-Preis prämiert. Dieser Preis ist mit einem Ankauf der Baloise Group für die Sammlung der Nationalgalerie in Berlin verbunden. Das ist Anlass für die erste Einzelausstellung der Künstlerin in einem Museum. Xinyi Cheng zeigt derzeit im Hamburger Bahnhof rund 30 Gemälde, von denen viele extra für die Ausstellung entstanden sind, und sechs Fotografien. Mit ihr sprach Inga Dreyer.

Als ob sie hinter verschlossenen Türen miteinander kommunizieren?

Ja. Als die Speditionsfirma im Dezember kam, um die Bilder abzuholen, war ich so erleichtert. Viele Maler*innen sagen, dass sie das Gefühl haben, ihre Bilder würden in diesem Moment ein Eigenleben entwickeln. So ging es mir auch.

Die Ausstellung heißt zu Deutsch: Das Pferd mit Scheuklappen. Warum haben Sie sich für diesen Titel entschieden?

Es war sehr schwierig. Ich hatte keine Idee für einen Titel, der alles zusammenfassen würde, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Stattdessen habe ich mit dem Kurator darüber gesprochen, die Ausstellung einfach nach einem der Bilder zu benennen. »The Horse with Eye Blinders« ist ein Bild, das ich während des Lockdowns gemalt habe. Das Pferd kann nur nach vorne gucken und wird nicht von dem, was seitlich passiert, abgelenkt. So fühlte sich mein Leben zu dieser Zeit an. Ich habe nur nach vorne geguckt. Aber was ich sah, war sehr vage. Verschwommene Ideen von der Zukunft. In der Ausstellung gibt es eine Menge Bilder, die nichts mit dem Titel zu tun haben. Aber ich dachte, er sei ein schöner Auftakt.

Wenn man eine Verbindung zwischen dem Titel und anderen Bildern sucht, fällt auf, dass viele der porträtierten Personen introspektiv wirken. Sie sind zwar präsent, aber scheinen gedankenverloren…

Ich mag es, Leute darzustellen, die wissen, dass sie beobachtet werden. Aber gleichzeitig will ich, dass sie von dem absorbiert sind, was sie gerade tun - anstatt irgendetwas zu spielen. Ich denke, all diese Personen haben viel über sich selbst zu erzählen.

Viele dieser Personen sind Freund*innen von Ihnen. Malen Sie auch Fremde?

Ich glaube, nur ein- oder zweimal bisher. Normalerweise male ich Menschen, die ich kenne und die ich sehr schön finde. Zum Beispiel einen Freund aus Baltimore. Dort habe ich vor acht Jahren gelebt, aber ich male ihn immer noch manchmal. Ich denke, es gibt Situationen, in denen es einen Charakter wie ihn braucht. Es geht mir nicht nur darum, wie Personen aussehen. Ihr Äußeres ist ein Resultat dessen, wer sie sind. Das ist sehr wichtig für mich. Bei Fremden ist es so: Wenn es keine Verbindung gibt, komme ich mit dem Bild nicht voran.

Häufig malen Sie alltägliche Situationen wie das Anzünden einer Zigarette. Was interessiert Sie daran?

In Paris wird viel geraucht. Vor dem Lockdown hatte die Stadt eine reiche Café-Kultur. Wenn Leute draußen bei einem Drink sitzen, sind Zigaretten unvermeidbar. Sich gegenseitig Zigaretten anzuzünden, ist auch eine Art, mit Fremden zu reden. Dieser kurze Moment ist sehr intensiv und intim. Auch, wenn im Gespräch plötzlich Stille herrscht, kann Rauch diesen leeren Raum füllen. Deshalb interessiert mich diese Situation. Diese Bilder habe ich 2019 gemalt, vor Covid. Viele Themen resultieren aus Begegnungen und Momenten, die ich festhalten wollte. 2020 fehlte mir das soziale Leben. Ich denke, auch deshalb ging meine Arbeit in eine andere Richtung. Ich habe zum Beispiel Tiere wie diesen schwimmenden Hund gemalt. Das war ein wichtiges Bild für mich. Es ist ein Saluki. Diese Hunde sehen ein bisschen wie Pferde aus und sind dünn und groß. Für mich sind diese Tiere Metaphern für Menschen.

Ein anderes präsentes Motiv in Ihren Arbeiten ist Fleisch - zum Beispiel in Form von Schinken, der geschnitten oder gegessen wird. Was fasziniert Sie daran?

Ich habe damals einen spanischen Film gesehen, der »Jamon Jamon« heißt, also »Schinken Schinken«. Es geht um zwei junge Männer, die sich in dasselbe Mädchen verlieben. Sie streiten sich und nehmen Schinkenkeulen, mit denen sie einander bekämpfen. Einer der Jungen wird dabei getötet. Ich war sehr überrascht über diese Szene. Aber als ich in Spanien war, dachte ich: Das Fleisch ist so verlockend! Kein Wunder, dass flämische Maler aus dem 17. Jahrhundert es liebten, Fleisch zu malen. Als ich das Goya-Gemälde »Saturn, der seinen Sohn verschlingt« sah, wollte ich auch so etwas machen.

Das rohe, wilde Fleisch scheint ein Gegenpol zu den introvertierten Menschen zu sein, die Sie malen?

Ja, ich wollte auch über den animalischen Aspekt des Menschseins sprechen. Ich denke, es ist unmöglich, dem zu entkommen. Dabei spreche ich nicht von Vegetarier*innen, sondern von der menschlichen Natur.

Ins Auge fallen auch die Farben Ihrer Bilder. Wovon werden Sie inspiriert?

Als ich zwischen 2012 und 2014 in Baltimore lebte, tendierte ich dazu, leuchtende Pastellfarben zu verwenden. Das war das, was mich umgab und was die Leute trugen. Für mich muss die Farbwahl nicht die Realität widerspiegeln, sondern eine Situation fühlbar machen. Als ich später in Amsterdam lebte, hat das weiße, fast blaue Licht meine Arbeit sehr beeinflusst. Jeden Morgen hatte ich in meinem Studio, das nach Norden zeigte, dieses Licht. Es gab auch sehr intensive Sonnenuntergänge. Ich glaube, die schönsten, die ich jemals gesehen habe. Auch mit Renaissancemalerei habe ich mich in dieser Zeit beschäftigt und viel mehr Grau verwendet. Plötzlich sind die Farben ruhiger geworden. Beim Malen überlege ich sehr lange, welche Farbe der Hintergrund haben soll. Ich mag es einfach mit wenigen Objekten im Bild. Das bedeutet, dass die Wahl der Farben sehr präzise sein muss. Das ist eine Herausforderung.

Abgesehen von den Tier-Motiven: Hat sich Ihre Arbeit in der Pandemie verändert?

Letztes Jahr habe ich einige größere Bilder gemalt, denn während des Lockdowns hatte ich viel mehr Energie und auch das Gefühl, mehr Zeit zu haben. Früher wollte ich reinzoomen und nur Porträts mit wenig Hintergrund zeigen. Aber nun wollte ich eine offenere Umgebung malen, bei der man nicht so genau weiß, wo es ist, aber ein Gefühl für die Stimmung bekommt. Früher mochte ich es, Menschen nackt zu malen. Aber letztes Jahr gab es einige Figuren, denen ich Kleidung angezogen haben. Es hat sich angefühlt, wie die Charaktere in Kostüme zu stecken, die zu ihrer Persönlichkeit passen müssen. Das ist etwas Neues für mich. Vielleicht ist Covid unterbewusst immer in meinem Hinterkopf. Ich denke nicht wirklich darüber nach, wenn ich male, aber das ganze letzte Jahr habe ich in meinem Apartment verbracht. Die äußere Welt war nur noch Erinnerung. Auch die Zukunft besteht nur noch aus Vorstellungen und Nachrichten und Statistiken. Vielleicht werden dadurch meine Hintergründe abstrakter.

Sie wurden in Wuhan geboren, wo die ersten Covid-19-Fälle öffentlich geworden sind. Haben Sie dort noch Familie?

Ja, ich bin dort geboren. Dann ist meine Familie nach Beijing gezogen, aber ich habe immer noch Verwandte dort und fühle mich der Stadt und meinen Verwandten sehr nah. Es fühlt sich surreal an, dass dort alles vor einem Jahr begann. Früher habe ich meinen Freunden erzählt, dass ich aus Wuhan komme und Leute wussten nicht wirklich, wo was war - bis letztes Jahr. Leider ist die Stadt nun für so etwas Schlimmes bekannt geworden.

Welche künstlerischen Pläne haben Sie für die nächste Zeit? Lässt sich überhaupt planen?

Ich werde im April an der Shanghai Biennale teilnehmen und hoffe, dass meine Bilder rechtzeitig fertig sind. Nach der Show in Berlin hatte ich das Gefühl, dass ich erschöpft und traurig und müde war. Aber seit letzter Woche ist die Energie zurück. Was ich wirklich vermisse, ist, in Museen zu gehen und Kunstwerke anzugucken. Meine nächste Solo-Ausstellung wird 2022 in Paris bei der Lafayette Foundation sein. Dafür habe ich noch Zeit.

»Xinyi Cheng. The Horse with Eye Blinders«,bis 30. Mai, Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart - Berlin. Digitales Angebot auf der Website des Museums. Bald ist die Ausstellung auch physisch zu besichtigen.
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