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Aus den Händen und Armen gerissen
Emily Carrs Liebeserklärungen an die indigene Kultur Kanadas – »Klee Wyck«
Es ist bezeichnend, dass sich die Malerin Emily Carr als Künstlerin erst durchsetzen kann, als sie Ende der 1920er Jahre ihre Sujets ändert und die Landschaften und Wälder ihrer kanadischen Heimat porträtiert. Davor hatte sie sich immerhin fast drei Jahrzehnte lang mit großem Eifer um das Erbe der First Nations bemüht. Um deren langsam aussterbende künstlerische Tradition zu bewahren, wollte sie diese mit der zeitgenössischen Moderne verschmelzen.
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Emily Carr: Klee Wyck - die, die lacht.
A. d. kanad. Engl. v. Marion Hertle. Mit einem Vorwort v. Kathryn Bridge. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 176 S., geb., 20 €. •
Damit steht Carr im Widerspruch zur offiziellen Kulturpolitik Kanadas, die die indigenen Völker unbedingt assimilieren will - und zwar indem sie mit großem missionarischen Aufwand zum Christentum bekehrt werden sollen. Ihre Rituale wie zum Beispiel das Potlatch-Fest werden verboten, und ihre Kinder werden den Familien entrissen und in staatliche Erziehungseinrichtungen gesteckt. Eine Verständnis für die indigenen Traditionen einfordernde und nicht zuletzt ihre Schönheiten feiernde Kunst wie die Emily Carrs ist da eher kontraproduktiv.
Carrs Respekt vor den kulturellen Errungenschaften der Ureinwohner zeigt sich auch in ihren literarischen Arbeiten. Hier formuliert sie scharfe Kritik an den staatlichen Umerziehungsmaßnahmen. In diversen Erinnerungstexten erzählt sie von innigen Freundschaften, die sie kontrastiert mit dem unempathischen, nicht selten dumpf rassistischen Gebaren der Missionare. »Ich kann Ihnen sagen, es war einfacher mit Wilden fertigzuwerden als mit diesen halbzivilisierten Leuten«, eröffnet ihr ein Pfarrer während einer gemütlichen Teestunde, »im Grunde ist es ganz unmöglich … Ich habe meine Frau und meine Kinder in den Süden geschickt … Ich kann nicht zulassen, dass meine Kinder so viel mit Indianern zu tun haben.« Carr muss das überhaupt nicht kommentieren, denn zuvor hat sie ausgiebig geschildert, wie zuvorkommend sie von diesen »halbzivilisierten Leuten« behandelt wird, wie unproblematisch der Umgang mit ihnen ist und dass man sich über ihre ethischen Prinzipien gleich gar keine Sorgen machen muss.
Carr kommt erst Ende der 30er Jahre zum Schreiben, da geht sie bereits auf die 70 zu und genießt als Künstlerin längst internationale Anerkennung. Nach einer Reihe von Herzinfarkten, die eine längere Zeit der Rekonvaleszenz erfordern und damit auch die Arbeit an der Staffelei stark einschränken, nimmt sie ihre alten Notizen und Tagebücher zur Hand und formt aus diesem Material Geschichten und Prosaskizzen über ihre Reisen und Erlebnisse mit den »Indianern«. Unter dem Titel »Klee Wyck«, nach dem Namen, den ihr der Stamm der Chinook verleiht (»Die, die lacht«), werden sie 1941 gesammelt als Buch publiziert. Einzelne Stories sind bereits auf Deutsch erschienen, aber der auf solche Entdeckungen spezialisierte Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hat jetzt erstmals eine vollständige Übersetzung herausgegeben.
In diesen Geschichten manifestieren sich Menschenfreundlichkeit und eine tiefe Zuneigung zu den First Nations, ohne diese jedoch zu glorifizieren oder exotisch zu verklären. Vor allem blendet Carr die enormen Härten ihres Lebens nicht aus. »Jedes Jahr bekam Sophie ein Baby. Und beinahe jedes Jahr trug sie eines zu Grabe«, porträtiert sie eine Korbflechterin, mit der sie über 40 Jahre befreundet ist. »Die kleinen Gräber waren über den ganzen Friedhof verstreut. Nie waren mehr als drei ihrer einundzwanzig Kinder gleichzeitig am Leben. Als Sophie Anfang fünfzig war, waren alle ihre Kinder tot und sie hatte keine Tränen mehr. Sie begann zu trinken.«
Die hohe Kindersterblichkeit spielt öfter eine Rolle in »Klee Wyck«, aber auch diese rechtfertigt für Carr nicht den repressiven Paternalismus der Regierung. Als ein Missionar sie bittet, eine ihrer Freundinnen zu überreden, ihren Sohn auf ein »Gewerbe-Internat für Indianer« zu schicken, lehnt sie das rundheraus ab. Sie kenne einen Jungen, der eine solche Schule besucht habe und sich »jetzt für seine indianische Herkunft schämt«. Die Folgen einer solchen ideellen Heimatlosigkeit erscheinen ihr weitaus schlimmer. »Es muss die Indianer fürchterlich schmerzen«, konstatiert sie in einer anderen Geschichte, »wenn ihnen die Dinge, an die sie immer geglaubt haben, aus den Händen und Armen gerissen werden und darauf herumgetrampelt wird.«
Sie weiß allerdings auch, dass der Kampf längst verloren, die weiße Usurpation fast abgeschlossen ist. Gerade deshalb unternimmt sie solche Anstrengungen und lässt sich immer wieder von Führern zu abgelegenen, verlassenen Dörfern bringen, um die alten Stammesrelikte, vor allem ihre artifiziellen Totempfähle zu malen. Die gleiche Funktion haben auch diese Geschichten. Carr will das Alltagsleben der Indigenen dokumentieren; festhalten, was bereits um die Jahrhundertwende langsam auszusterben beginnt. Und so weht oft eine sanfte Melancholie durch ihre Texte.
Vermutlich auch beeinflusst durch ihren langjährigen Austausch mit den Ureinwohnern, löst sich Emily Carr in den 30er Jahren von ihrer streng orthodoxen christlichen Erziehung und öffnet sich mehr und mehr naturreligiösen bzw. pantheistischen Vorstellungen. Auch diese Konversion findet ihren Niederschlag in »Klee Wyck«. Nicht zuletzt formal, im sprachlichen Feinbau.
Emily Carr belebt die Dingwelt. Wenn in allem der göttliche Atem steckt, dann ist nichts zu gering, um zum handelnden Subjekt zu werden. »Am Anfang war es heiß, aber nach und nach kroch Dunst über die entlegeneren Landzungen, bis sie sich schließlich meinen Blicken entzogen, als wäre ihnen plötzlich aufgefallen, dass sie mir zu viel von sich gezeigt hatten. Der Nebel kam immer näher … Er stahl mir meine Totempfähle.« So klingt ihre einfache, bildliche, betont unrhetorische Prosa ein wenig wie von den First Nations abgelauscht. Die Demut, mit der Carr ihnen gegenübertritt, manifestiert sich auch im Stil.
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