»Zu Hause ist es doch nicht so schön«

Coronakrise im Betrieb: Forscher haben Betriebsräte und Gewerkschafter nach ihren Erfahrungen gefragt. In ihrer Studie skizzieren sie auch künftige Kämpfe.

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 6 Min.

Vertiefende Studien über die Wahrnehmung von Beschäftigten und ihren betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen sind selten geworden. So verwundert es nicht, dass die betriebliche Ebene in der Fülle an Beiträgen über die Auswirkungen der Corona-Pandemie eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit erfährt. Richard Detje von Wissentransfer in Hamburg und Dieter Sauer vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München haben nun ihre Studie »Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrungen aus Industrie und Dienstleistungen« veröffentlicht.

Ihre Untersuchung zu den Auswirkungen der Coronakrise stützen die Autoren auf 43 Interviews mit Vertreter*innen von IG Metall und Verdi sowie vor allem mit Betriebsräten und betrieblichen Vertrauensleuten aus verschiedenen Industrie- und Dienstleistungsbereichen. Zudem ordnen sie zahlreiche Studien und Zeitdeutungen souverän ein. Sie knüpfen dabei auch an eigene Vorläuferstudien an, zuletzt »Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche« aus dem Jahr 2018, zusammen mit Ursula Stöger, Joachim Bischoff und Bernhard Müller.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Anerkennung und Druck

Einer der Befunde der früheren Untersuchungen von Detje und Sauer lautete, dass die »Krise« aus Sicht vieler Beschäftigter zu einem Dauerzustand im Sinne eines ständigen Veränderungsdrucks geworden sei. Auf Basis der Befragungen verneinen Detje und Sauer folglich, dass die Pandemie in Bezug auf die Arbeitswelt vorwiegend mit dem Bild des »schwarzen Schwans«, also eines exogenen Schocks durch ein extrem unwahrscheinliches Ereignis, zu beschreiben sei. Denn das »konjunkturelle Auf und Ab mischt Unsicherheit infolge wirtschaftlicher Einbrüche mit der arbeitsweltlichen Erfahrung, dass die Leistungs- und Flexibilisierungsschrauben Jahr um Jahr angezogen werden. Daran hat auch eine längere Prosperitätsphase zwischen 2010 und 2018/19 wenig geändert.«

Waren in der Finanzmarktkrise ab 2007 vor allem Finanzdienstleistungen und Teile der Industrie besonders betroffen, so sind diesmal weite Felder der Dienstleistungen härter getroffen, etwa Mobilitätsbranchen, Gastronomie, Tourismus, Teile des stationären Handels und der Kultursektor. Andere Dienstleitungssektoren werden aktuell und vermutlich auch perspektivisch wachsen, dazu gehören der Online-Handel, IT-Dienstleistungen, Teile des öffentlichen Dienstes und des Gesundheitssektors.

Entsprechend unterschiedlich sind auch die Erfahrungen der Beschäftigten: Während für die einen die Angst um die Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes oder ein unzureichendes Kurzarbeitergeld prägend sind, erleben andere zwar eine stärkere Anerkennung ihrer Tätigkeit, aber auch eine weitere Arbeitsverdichtung und zu selten eine angemessene finanzielle Verbesserung.

Viele Unternehmen, so Detje und Sauer, hätten es in den langen Aufschwungjahren nach 2009 versäumt, »hinreichende Vorsorge für die Transformationsprozesse des digitalen und sozial-ökologischen Wandels sowie hinsichtlich der Störanfälligkeit von globalen Wertschöpfungs- und Lieferketten« zu treffen. Nun drohe eine »Krise nach der Krise«, wenn keine politische Antwort auf eine schwache Nachfrage infolge von Einkommensverlusten und Konsumverzicht aus Unsicherheit über die eigene berufliche Zukunft gefunden werde.

»Die wollen wieder zur Arbeit«

Dabei erweist sich das Instrument der Kurzarbeit zwar als grundsätzlich richtig, seine materiellen Grenzen und Widersprüchlichkeiten werden aber vielfach deutlich. So gelingt es nur dort, wo Gewerkschaften noch eine relativ starke Verhandlungsmacht haben, deutliche tarifliche Erhöhungen des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes zu erreichen. Gleichzeitig sind es eben gerade die Branchen mit geringer Tarifbindung und schwächerer Gewerkschaftsmacht, in denen Niedriglöhne gezahlt werden, bei denen die gesetzlichen Kurzarbeitsgelder nicht existenzsichernd sein können. Hinzu kommen langfristig negative Auswirkungen etwa auf ein mögliches Arbeitslosengeld oder künftige Renten.

Detje und Sauer empfehlen eine gründliche Evaluierung der Corona-Erfahrungen für eine künftige Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit unter den Bedingungen einer stärkeren mobilen Arbeit. Wo diese denn möglich ist, wäre hinzuzufügen, denn gerade viele »systemrelevante Tätigkeiten« - von der Pflege, der Erziehung und Arbeiten in Krankenhäusern bis hin zur Müllabfuhr, Feuerwehrdiensten und Arbeiten in der Logistik - lassen sich nun einmal schlecht im Homeoffice erledigen. Dem physischen Arbeitsplatz kommt auch weiterhin eine wichtige Funktion für das Erleben von Gemeinschaftlichkeit und damit auch Organisierung zu, wie es in einem Interview besonders deutlich wird. »Der Betrieb ist mehr als nur Arbeit, das ist auch ein Ort der sozialen Interaktion, das ist so etwas wie Familie und deswegen wollen auch viele Leute wieder arbeiten, womit ich persönlich jetzt gar nicht gerechnet hätte in der Form. Aber die wollen wieder zur Arbeit, weil zu Hause ist es eben doch nicht so schön, sie vermissen ihre Betriebsfamilie. Das ist ein Teil von Gemeinschaft«, heißt es in einem der Gespräche.

Die befragten Beschäftigten schildern ambivalente Erfahrungen aus der ersten Phase der Pandemie, solche von Überforderung, autoritärem Betriebsmanagement und Fragmentierung ebenso wie ermutigende und solidarische: »In der Ausnahmesituation werden von den Kolleg*innen auch Zusammenhalt und gemeinsame Sinnstiftung erlebt, Arbeit als solidarischer Zusammenhang erfahren. Neben der gesellschaftlichen Aufwertung erfahren sie auch eine subjektive Aufwertung ihrer Arbeit, die ihr Selbstbewusstsein stärkt. Und diese Solidaritätserfahrung verbindet sich mit dem Wissen um die Bedeutung, die ihre Tätigkeit für das Überleben von Mensch und Gesellschaft hat. Darin steckt auch ein Demokratisierungspotenzial für Arbeitskräfte«. Ein Kollege des Österreichischen Gewerkschaftsbundes sieht wachsende Aufgaben und auch Chancen für die Gewerkschaften, denn »nach der Krise gibt es vieles zu regeln in Wirtschaft und Gesellschaft«.

Die Pandemiegewinner

Über die rein betriebliche Ebene hinaus sind zwei Aspekte von zentraler gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, auch für künftige Kämpfe: Erstens die Rolle des Staates als ökonomischer »Game Changer«. Hierbei geht es darum, politisch für die Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur, eine umfassende Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, eine Stärkung des Sozialstaates und schließlich für eine ökologische Umwälzung der industriellen Produktion zu streiten. Detje und Sauer sprechen von den drei großen Transformationsprozessen »Digitalisierung, Dekarbonisierung und Globalisierung«. Dabei kommt der Aufwertung und dem Ausbau sozialer Dienstleistungen eine besondere Rolle auch für die Funktionsfähigkeit der gesamten Gesellschaft und Ökonomie zu, wofür sie die Soziologin Eva Illouz zitieren: »Der Staat und nur der Staat wird zunehmend eine Politik der Lebensbedingungen betreiben.«

Zweitens geht es um die generelle Aufwertung der Arbeit und darüber jener Beschäftigten, für die im vergangenen Jahr der sperrige, aber politisch anknüpfungsfähige Begriff der »Systemrelevanz« eingeführt wurde. Dazu hat kürzlich Philipp Tolios im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Studie »Systemrelevante Arbeit. Sozialstrukturelle Lage und Maßnahmen zu ihrer Aufwertung« vorgelegt, deren Ergebnisse die Untersuchung von Detje und Sauer ergänzen. Beide Studien unterstreichen, dass zwar einige, freilich unzureichende Verbesserungen für Beschäftigte im Gesundheitswesen erreicht wurden, etwa in der Tarifrunde des öffentlichen Dientest für Bund und Kommunen im Herbst 2020. Für andere »Alltagshelden« des Frühjahrs 2020 habe sich die Situation dagegen sogar weiter verschlechtert. Dies gelte vor allem für Beschäftigte in der Privatwirtschaft, etwa im Verkauf und der Logistik.

Umso wichtiger werden auch Organisierungsansätze von Beschäftigten, etwa bei Amazon in den USA und Europa, bei Uber in Großbritannien oder in Form der Tech-Worker-Gewerkschaft AWU bei Google - also bei Konzernen, die nicht nur Steuervermeidung sowie die Ablehnung von Tarifverträgen und Kollektivrechten als wesentliches Element ihrer Geschäftsmodelle verfolgen, sondern auch große Pandemiegewinner sind.

Richard Detje und Dieter Sauer: Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrungen aus Industrie und Dienstleistungen. VSA-Verlag, 144 S., br., 12,80 €.

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