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Wie ein friedlicher Sitzstreik
Verfahren gegen Flüchtling wegen Widerstands im Sozialamt vor der Einstellung
Richter Andreas Welzenbacher hätte schon am Dienstag das Urteil gesprochen. Weitere Zeugen hören und Beweise sichten muss er dazu nicht. Doch im Verfahren gegen den Geflüchteten Lazare M., der wegen Widerstands gegen Polizisten angeklagt ist, möchte der Staatsanwalt noch einmal in Ruhe nachdenken, ob das Verfahren nicht ohne Schuldspruch beendet, sprich: eingestellt werden kann. Mit dieser Bedenkzeit waren Richter Welzenbacher und Verteidiger Carsten Ilius einverstanden. So sieht man sich - kein Scherz - am 1. April wieder vor dem Amtsgericht Frankfurt (Oder).
Zu dieser überraschenden Wendung beigetragen hatten die Aussagen von zwei Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes im Sozialamt des Landkreises Märkisch-Oderland. Sie waren am 4. November 2019 gerufen worden, als sich der aus dem Kamerun nach Deutschland geflüchtete Lazare M. in der Behörde in Dedersdorf weigerte, den Schalterraum zu verlassen, bevor er nicht die ihm für einen Monat zustehenden 310 Euro ausbezahlt bekommt. Weil er zu einem festgesetzten Termin nicht erschienen war, sollte er aber nur 103 Euro erhalten.
»Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte auch gesagt: ›Nein, ich gehe nicht!‹«, bekannte einer der beiden als Zeugen geladenen Wachmänner vor Gericht. Ihm sei die Behandlung des Flüchtlings ungerecht vorgekommen, sein Verhalten »menschlich nachvollziehbar«, so der 32-Jährige. Die Mitarbeiterinnen des Sozialamts hätten vom Sicherheitsdienst verlangt, den widerspenstigen Lazare M. hinauszuschaffen - und nicht eingesehen, dass ein privater Wachschützer gar nicht befugt sei, jemanden überhaupt nur anzufassen. Schließlich seien zwei Polizisten geholt worden, die den Sicherheitsdienst baten, dabei behilflich zu sein, dem Flüchtling Handschellen anzulegen. »Das hat nicht funktioniert«, sagte der Wachmann. Der Flüchtling habe sich im Schalterraum festgekrallt und gewehrt, jedoch defensiv, »wie bei einem friedlichen Sitzstreik«.
Anwalt Ilius zeigte dem Zeugen ein Video, in dem zu sehen ist, wie eine Mitarbeiterin des Sozialamts mit einem Stift heftig auf die Hand von Lazare M. einsticht, damit er loslässt. Der Wachmann konnte sie zwar nicht identifizieren, sagte beim Ansehen des Videos jedoch verblüfft und erschrocken: »Was ist das zum Teufel?«
Über die beiden Sozialamtsmitarbeiterinnen, die in dem betreffenden Schalterraum Dienst tun, wusste der Wachmann zu berichten, dass sie nach Berichten der Flüchtlinge »Haare auf den Zähnen« haben, wie der Volksmund sage. Auch zum Sicherheitsdienst seien diese Frauen »respektlos«.
Anschließend sagte der Kollege des Wachmanns aus. Er sollte ebenfalls helfen, dem Angeklagten Handschellen anzulegen. »Es war Gerangel. Ich habe auch was abgekriegt. War aber nichts weiter«, berichtete der 48-Jährige. Er habe plötzlich einen Schlag vor die Brust bekommen. Ob ihn da der Flüchtling oder unabsichtlich ein Polizist erwischt habe, vermochte er nicht zu sagen. Wegen der Schmerzen sei er nach der Arbeit zum Arzt gegangen. Das Röntgenbild habe aber ergeben, dass keine Rippe gebrochen war. Er habe den Flüchtling nicht angezeigt, wolle ihn auch nicht anzeigen. »War ja nichts gewesen«, winkte er ab.
Auch die Rechtsanwältin, die nach dem Vorfall für Lazare M. Widerspruch gegen die Kürzung seiner Leistung eingelegt hatte, sagte am Dienstag aus. Bereits einen Tag später lenkte das Sozialamt ein und gab ihr Bescheid, ihr Mandant könne sich sein Geld abholen. Dass derart schnell Abhilfe geschaffen wird, hatte die Anwältin noch nie erlebt. Während die meisten Landkreise in Deutschland den Flüchtlingen die Sozialleistungen überweisen, habe Märkisch-Oderland früher sogar verlangt, dass Mütter ihre minderjährigen Kinder zum Termin mitbringen und die Kleinen am Schalter nacheinander hochheben, damit die Sozialamtsmitarbeiter sie sehen können. Die Anwältin sprach davon, dass in dieser Behörde »rechtsstaatswidrige Blüten treiben«. Inzwischen sei im Kreistag klargestellt worden, dass die Verweigerung der Auszahlung wegen angeblicher Verspätung bei der Abholung nicht erlaubt sei.
Zum Schluss - bevor der Prozess vertagt wurde - äußerte sich am Dienstag noch ein Gerichtsmediziner zu dem Fall. Er hatte auf Fotos die Schürfwunden begutachtet, die der Angeklagte davontrug. Der Rechtsmediziner erklärte, dass Lazare M. unnatürlich mit den Armen auf dem Rücken gefesselt wurde, und er bestätigte, dass zu fest angelegte Handschellen einen »wahnsinnigen Schmerz« auslösen. Dass der Angeklagte die Besinnung verlor und nicht etwa nur eine Ohnmacht vortäuschte, wie ihm seinerzeit vorgehalten wurde, sei glaubhaft und physiologisch erklärbar. Schließlich habe eine Blutdruckmessung - es war ein Rettungswagen alarmiert worden - auf eine Krise hingedeutet. Nach den Erkenntnissen, die dem Experten vorliegen, hat der Angeklagte nur passiven Widerstand geleistet und nicht selbst jemanden angegriffen.
Wegen brutalen Schlägen auf den Arm und den Kopf des heute 29-jährigen Angeklagten zeigte sein Anwalt Ilius zwei Polizisten an, wegen des Einstechens mit einem Stift auf die Hand von Lazare M. eine Mitarbeiterin des Sozialamts. Dazu laufen die Ermittlungen noch.
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