Nicht nur blutrünstige Schurken
Eine junge Frau als Erzählerin: Sebastian Barrys »Tausend Monde« ist ein besonderer Westernroman
Tennessee 1874. Wenige Jahre nach dem Bürgerkrieg zwischen den Süd- und den Nordstaaten sind die USA nach wie vor ein tief gespaltenes Land. Viele Angehörige der Armee der Konföderierten wollen sich mit der Niederlage nicht abfinden und protestieren gegen die neue Ordnung. Sie ziehen sich Kapuzen über, ermorden freigelassene Sklaven und brennen deren Häuser nieder. »Was ihre Gemüter am meisten erhitzte, war die Vorstellung, ein Schwarzer könnte sich zur Freiheit aufschwingen.«
Winona, die 17-jährige Ich-Erzählerin von Sebastian Barrys Romans »Tausende Monde«, macht ihre ganz eigene Gewalterfahrung. Ein nächtlicher Ausflug, den sie mit ihrem Verehrer verbringt, mündet in einem bösen Erwachen. Sie ist verletzt, kann sich wegen eines alkoholbedingten Filmrisses aber nicht erinnern, was geschehen ist. Fest steht, jemand hat ihr etwas angetan, für das die sexuell noch unerfahrene junge Frau und Native American nur schwer Worte findet. Jedenfalls fühlt es sich so an, als habe ihr einer »ein glühendes Hufeisen gegen die Lenden gedrückt«. Aber wer war der Täter? Ihr nächtlicher Begleiter streitet es ab.
Winona will die Wahrheit herausfinden und wird dabei unterstützt von ihrem Ziehvater John Cole. Nach einem an den Lakota verübten Massaker hatte der Bürgerkriegsveteran und ehemalige Native-American-Kämpfer der US-Kavallerie das Mädchen gemeinsam mit seinem Lebenspartner »adoptiert«. Einem Gesetzeshüter sagt er: »Ich denke, wir finden heraus, wer die Tat begangen hat, und erschießen den Mann.« Sein Gegenüber sieht das naturgemäß anders: »Das hier ist die neue Welt der Farmen, der eingelegten Birnen und des Friedens und dazu gehören Zurückhaltung und Sheriffs.« Cole erwidert: »Sehen Sie, genau da machen wir nich’ mit. Denn um ’ne Indianerin - oder ’nen Schwarzen - scheren die Leute sich ’n Dreck.«
Der kurze Wortwechsel veranschaulicht, wie zwei Prinzipien in der Erzählung miteinander ringen: das Faustrecht der Prärie und die erst noch zu errichtende staatliche Ordnung. Wir haben es also mit einem Western zu tun - einem knallharten zudem, der die Konventionen des Genres respektiert und mit den klassischen Ingredienzien aufwarten kann: raubeinige Kerle und blutrünstige Schurken, eine ungezähmte Natur, Pferde, Cowboyhüte und eine derbe Sprache.
Doch darin erschöpft sich der Roman nicht. Was ihn so besonders macht, ist die Stimme der Erzählerin, die als junge Frau, Angehörige einer unterdrückten ethnischen Minderheit und - wie sich im Verlauf der Erzählung zeigen wird - der gleichgeschlechtlichen Liebe zugeneigte Heranwachsende in einer von männlicher Gewalt dominierten Welt in mehrfacher Hinsicht gefährdet ist und sich gleichwohl nie in der Position des hilflosen Opfers sieht. Stattdessen verkleidet sie sich als Junge, macht sich auf, den Täter zu finden, und ist letztlich bereit, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Zumal es unklar ist, ob ein an einer Native American verübtes Verbrechen von der Justiz überhaupt geahndet werden würde.
Eine ordentliche Bürgerin der Vereinigten Staaten ist Winona noch weniger als die freigelassenen Sklaven, die zwar ihre Arbeitskraft verkaufen dürfen, aber damit ihren ehemaligen Eigentümern noch keineswegs gleichgestellt sind: »Ein Schwarzer war gehalten, stets eine Arbeitsbescheinigung bei sich zu führen; tat er es nicht, konnte man ihn wie einen Vagabunden behandeln.« Kraft schöpft sie aus der liebevollen Zuwendung ihrer Ziehväter und aus der Erinnerung an jene Zeit, als sie die Welt des weißen Mannes noch nicht kannte: »In meinem Volk war es ein Segen, ein Kind zu sein. Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften, und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein.«
Einer weiteren Kraftquelle begegnet sie im Verlauf der Suche nach ihrem Vergewaltiger. Es handelt sich um eine junge Frau, entwurzelte Native American wie sie selbst, von der sie zunächst angeschossen wird und in die sie sich dann verliebt: »Mir wurde warm im Bauch, und ich empfand dem Großen Geist gegenüber unendliche Dankbarkeit, dass Peg erschaffen und auf der Erde abgesetzt worden war, um zu leben. Neben ihr zu stehen fühlte sich an, als stünde man inmitten eine Flussströmung.«
Der Roman erzählt von den Wurzeln der heutigen Gewalt in den USA, ohne eine allzu einfache Täter-Opfer-Dichotomie zu bedienen. So waren die beiden Männer, die Winona aufgezogen haben, in ihrer Vergangenheit selbst an brutalen Bluttaten beteiligt. In der Beziehung zueinander und zu »ihrem Kind« zeigen sie sich fürsorglich. Zu den Stärken der auch sprachlich überzeugenden Erzählung gehört, dass sie die für das Westerngenre typische Polarität der Geschlechter sowie feste ethnische Zuschreibungen unterläuft. »Die meisten Weißen«, denkt Winona, »sehen nur Sklaven und Indianer. Den einzelnen Menschen nehmen sie nicht wahr. Dass jeder von ihnen ein Kaiser ist, für die, die ihn lieben.«
Sebastian Barry: Tausend Monde.
Steidl. 256 S., geb., 24 €.
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