- Berlin
- Pflege in häuslicher Umgebung
Oma allein zu Haus
Grüne kritisieren mangelnde Unterstützung für Pflege in häuslicher Umgebung
Fatoş Topaç ist verärgert. »Die Menschen sind zunehmend verzweifelt«, sagt sie mit Blick auf die Situation in der häuslichen Pflege in Berlin. Die Grünen-Politikerin geht mit der Gesundheitsverwaltung unter Dilek Kalayci (SPD) hart ins Gericht. Diese versäumt es in ihren Augen seit Monaten, dringend notwendige Schritte voranzubringen. »Ich erhalte viele Anrufe von Eltern chronisch kranker Kinder, die mangels eines Vakzins für Kinder bis auf Weiteres nicht gegen Covid-19 geimpft werden können«, nennt Topaç gegenüber »nd« ein Beispiel, um welche Gruppen man sich nun verstärkt kümmern müsse. »Diese Eltern müssen in der Impfpriorisierung nach vorne geholt werden«, fordert sie.
Topaç wirft der Gesundheitssenatorin vor, sich bei pandemiespezifischen Fragen zu Impfpriorisierung, Teststrategie und Informationspflicht aus der Verantwortung zu ziehen. In einer Schriftlichen Anfrage wollte sie von der Senatsgesundheitsverwaltung unter anderem wissen, ob Angehörige und zu Pflegende gezielt zum Infektionsschutz beraten werden. In der Antwort, die »nd« vorliegt, wird auf die Webseite des Landes Berlin verwiesen sowie auf 20 Seiten Beratungs- und Unterstützungsangebote, die man sich herunterladen kann. »Wen erreicht so was?«, fragt Topaç. Zumal diese Sammlung nur auf Deutsch vorliegt - und das in einer Stadt mit einem Anteil von über 14 Prozent Senior*innen mit Migrationsgeschichte.
»Die Impfcodes an diese alten Menschen, die mit Sprachbarrieren zu kämpfen haben, werden in 15-seitigen Dokumenten auf Deutsch verschickt«, sagt die türkeistämmige Politikerin entsetzt. Wer hier nicht auf Unterstützung zur Bewältigung dieser bürokratischen Last zurückgreifen kann, komme nicht an die dringend benötigten Informationen heran, moniert Topaç. Von den 36 Pflegestützpunkten in Berlin werden nur in fünf Bezirken mehrsprachige Video-Beratungen durchgeführt. »In Bezirken wie Neukölln, Kreuzberg, Spandau und Mitte, die eine vielfältige Bewohner*innenschaft haben, gibt es das nicht«, so die Pflegeexpertin. Hier würden die migrantisch geprägten Communitys aushelfen und ehrenamtliche Unterstützung organisieren, um die Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu gewährleisten.
Die Gesundheitsverwaltung verweist auf die Interkulturellen Brückenbauer*innen in der Pflege - ein Modellprojekt, bei dem Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunftssprachen zu Themen der Pflege geschult werden, um Pflegefachkräfte ambulanter Einrichtungen zu unterstützen und Pflegebedürftige mit Migrationsgeschichte und deren Angehörige über ihre Rechte zu informieren. Die Beratung umfasst viele der Themen, die die Menschen zurzeit beschäftigen, wie aus der Antwort der Gesundheitsverwaltung hervorgeht: Besuchsregelungen in Pflegeeinrichtungen, Überlastung in der häuslichen Pflege, Vereinsamung - die Liste ist lang. Allein es fehlt an zugänglicher Information.
»Die Verunsicherung führt bei vielen dazu, dass sie sich bei Medien informieren, die mit ihrer Lebensrealität nichts zu tun haben«, erklärt Topaç. Man müsse pflegebedürftige Menschen in ihrer konkreten Situation abholen, statt es aus einer verwaltungstechnischen Sicht zu betrachten.
Die Pflegepolitikerin kritisiert die Gesundheitsverwaltung auch für die in ihren Augen mangelhafte Kontrolle von Covid-Ausbrüchen. Fast zwei Drittel der Corona-Toten in Berlin starben bis Ende Januar in stationären Pflegeeinrichtungen. Die Lage in Pflege-Wohngemeinschaften ist besonders schwierig: Im Gegensatz zu Pflegeheimen besteht hier gegenüber der Heimaufsicht keine Pflicht zur Anzeige eines Infektionsgeschehens. Das Gleiche trifft für Seniorenwohnanlagen zu. Auch die Einhaltung von Hygieneplänen wird nicht kontrolliert.
In Berlin leben 80 Prozent der Pflegebedürftigen in ihrer häuslichen Umgebung. Ein Großteil der Versorgung wird von Angehörigen, Nachbar*innen und Freund*innen übernommen. Darüber hinaus werden etwa 30 Prozent der Pflegebedürftigen ergänzend oder ausschließlich von ambulanten Pflegediensten betreut. Zahlen zu Infizierungen bei zu Hause gepflegten und pflegenden Angehörigen hat die Gesundheitsverwaltung keine.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.