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Lückenfüller statt Leistungsträger
Dem deutschen Fußball steht ein gravierendes Nachwuchsproblem bevor. Eine Evolution soll helfen
Es sind warme Worte, mit denen Jamal Musiala und Florian Wirtz erstmals im Kreise der deutschen Nationalmannschaft begrüßt werden. »Wir sind gespannt, die beiden noch besser kennenzulernen. Sie haben sich die Nominierung mit zuletzt guten Leistungen verdient«, hat Bundestrainer Joachim Löw bei der Berufung mitgeteilt. Richtig gut lief es indes am vergangenen Wochenende weder für den 18-jährigen Musiala noch für den ein Jahr jüngeren Wirtz: Der eine kam beim 4:0 des FC Bayern gegen den VfB Stuttgart erst ab der 83. Minute zum Einsatz, der andere bestätigte mit Bayer Leverkusen bei Hertha BSC mit der 0:3-Niederlage sein anhaltendes Formtief. Löw ist daher gut beraten, zum Auftakt der WM-Qualifikation gegen Island am 25. März, drei Tage später in Rumänien und gegen Nordmazedonien am 31. März bei beiden Teenagern »nichts überstürzen« zu wollen. Der in der englischen U21-Nationalmannschaft eingesetzte Musiala soll sich kurz für das deutsche A-Team festspielen - und Wirtz sein Langzeitziel im Auge behalten.
Toptalente sind im deutschen Fußball ansonsten rar gesät. Die Nationalteams von der U21 an abwärts leiden unter einem eklatanten Leistungsabfall. Von einem »historisch schlechten Niveau« ist innerhalb der von Oliver Bierhoff geleiteten Direktion Nationalmannschaften und Akademie beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) die Rede. Wortlaut bei der Bestandsaufnahme: »Im Nachwuchsbereich sehen wir ein Gewitter kommen.« Rund drei Viertel der in der Bundesliga eingesetzten U23-Spieler sind Ausländer, die Einsatzzeiten von deutschen U21-Akteuren auf einem fast historischen Tiefstand. An die Bundesligatrainer ergeht vom DFB kein Vorwurf: Die würden schließlich nicht nach Nationalität, sondern nach Qualität aufstellen - und da geht dem deutschen Nachwuchs im Vergleich mit Franzosen, Spaniern oder Engländern einiges ab. Der fehlende Nachschub färbt demnächst unweigerlich auf das Aushängeschild ab: die A-Nationalmannschaft.
Spätestens ab 2026 würde Erfolglosigkeit drohen, »wenn wir keine essenziellen Schritte einleiten«, warnte gerade Joti Chatzialexiou, der Sportliche Leiter Nationalmannschaften beim DFB. Der gebürtige Frankfurter fordert seit Längerem im deutschen Nachwuchsbereich zwar »keine Revolution, aber eine Evolution ein, wenn wir dauerhaft zurück an die Weltspitze wollen«. Bierhoff würde gerne überall zumindest »weltmeisterlich arbeiten«, was in der Coronakrise durch fehlende Spiel- und Trainingsmöglichkeiten für die Junioren noch schwieriger geworden ist. Jede Praxiserfahrung steht in der Pandemie auf dem Prüfstand: Die Gruppenphase der U21-EM, die für die DFB-Auswahl gegen Gastgeber Ungarn am Mittwoch startet, ist eingedenk der hohen Inzidenzen äußerst umstritten. Trainer Stefan Kuntz geht die heikle Herausforderung ohne größeren Vorlauf und mit nur wenigen Stützen an, die bei einem Erstligisten gesetzt sind: Ridle Baku (VfL Wolfsburg), Nico Schlotterbeck (1. FC Union Berlin), Ismail Jakobs (1. FC Köln), Amos Pieper (Arminia Bielefeld). Wie 2017 Europameister oder 2019 Vizeeuropameister zu werden, erscheint 2021 kein realistisches Ziel mehr.
Unabhängig von den Corona-Debatten ist es den DFB-Entscheidern wichtig, die Gefahren nicht zu unterschätzen, die sich aus einer versiegenden Talentquelle für die Zukunft ergeben. Zahlreiche Stellschrauben vom Kinderfußball bis hin zur Trainerausbildung sind ausgemacht, um gegenzusteuern. Vor allem die Individualisierung kam zu kurz.
Wo sind Spieler, die Eins-gegen-Eins-Situationen lösen? »Ich glaube, diese Stärke muss viel mehr gefördert und vor allem zugelassen werden«, meint Amin Younes. Der 27 Jahre alte Trickser von Eintracht Frankfurt ist erstmals seit 2017 wieder dabei im Team von Löw und hielt im »Kicker« ein Plädoyer für den Straßenfußballer. Man müsse das Risiko in Kauf nehmen, »dass der Spieler bei zehn Versuchen drei-, viermal hängen bleibt. Und dass es drei, vier, fünf Jahre dauert, bis der Spieler diese Qualität perfektioniert.« Younes vermisst in dieser Hinsicht »Bereitschaft und Geduld: In Deutschland will man vielleicht zu oft denselben Spielertyp: taktisch gut, sauber beim Passspiel von A nach B. Aber: Wer dreht auf, wer geht am Gegner vorbei, wer macht ungewöhnliche Dinge?« Andere Länder sind da weiter. Inspektionsreisen in portugiesische und spanische Leitungszentren ergaben, dass kreative Spieler dort deutlich besser gefördert werden, bestätigte Chatzialexiou.
In deutschen Nachwuchsleistungszentren gäbe es »Luft nach oben«, gestand auch der Sportdirektor des VfL Wolfsburg, Marcel Schäfer, jüngst bei einem DFB-Medientalk. Dessen Kollege Markus Krösche von RB Leipzig ergänzte: »Der Blick auf das Wesentliche ist verloren gegangen: die Entwicklung der Spieler.« Der Bundesligazweite speist den Zufluss für das ambitionierte Profiteam bevorzugt aus Frankreich, Spanien oder den Niederlanden, deren 19- oder 20-Jährige nicht nur individuell besser ausgebildet seien, sondern auch schon die Erfahrung aus »80, 90 Erstligaspielen« gesammelt hätten.
Auch RB wolle die Durchlässigkeit für den eigenen Nachwuchs erhöhen, heißt es. Der erste Schritt: Leipziger U19-Spieler sollen häufiger mit den Profis trainieren. Der deutsche Nachwuchs scheint aktuell nur gut genug, um die durch die Länderspielreisen ausgedünnten Bundesligakader für die Aufrechterhaltung des Übungsbetriebs aufzufüllen. Die Stars von morgen sind mehr Lückenfüller als Leistungsträger.
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