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Gegen die unsichtbare Norm

Mehr als Theorie: In »Why we matter« seziert Emilia Roig die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie sehr viele Menschen vom rassistischen und sexistischen Mehrwert in dieser Gesellschaft profitieren, ist den meisten gar nicht klar. Unser Alltag steckt voller diskriminierender Sichtweisen und Praktiken, die wir uns kaum bewusst machen. Dabei würde gerade in dem Schritt, sich diese Mechanismen von Ausschluss und Unterdrückung bewusst zu machen, die Möglichkeit liegen, etwas in unserem Leben zu verändern. Das betont auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Emilia Roig in ihrem Buch »Why we matter«. »Das Ende der Unterdrückung, so utopisch es klingen mag, ist nichts anderes als ein Bewusstseinswandel: hin dazu, dass wir alle gesehen, gehört und geachtet werden - nicht nur einige wenige.« Das knapp 400-seitige Buch stürmt gerade die Sachbuchbestsellerlisten. Das hat sicherlich damit zu tun, dass nicht nur hierzulande derzeit gesellschaftlich sehr viel über das Thema Rassismus, aber auch über Sexismus und Feminismus diskutiert wird. Es liegt aber sicher auch daran, dass Emilia Roig es versteht, über Intersektionalität, also die Verschränkung von Rassismus, Sexismus und anderen Herrschaftsmechanismen, sehr verständlich zu schreiben.

In »Why we matter« geht es vor allem um Privilegien: um jene, die Privilegien genie-ßen, meist ohne sich dessen bewusst zu sein, und um jene, die diese Privilegien nicht haben und deren Leben strukturell davon geprägt ist. Zu denen gehört auch Emilia Roig, die viel von ihren ganz persönlichen Erfahrungen erzählt und die rassistischen Ausschlüsse, die sie als schwarze Frau erlebt hat und immer noch erlebt, in dieses Buch einfließen lässt. Das ist mitunter verstörend, wenn sie etwa davon berichtet, wie sie in Berlin an einer Ampel wartend von einem Passanten angespuckt wurde. Wobei Emilia Roig in ihrem Buch auch viel über die subtilen Ausschlussmechanismen schreibt. Denn markiert zu sein als schwarz, weiblich oder auch als behindert verändert den Alltag und führt zu Erfahrungen, die sich die Mehrheitsgesellschaft nicht vorstellen kann - und meist auch gar nicht vorstellen will. Deren Mitglieder verfügen eben über das Privileg, der sogenannten unsichtbaren Norm anzugehören, weil die Koordinaten ihrer Identität als »normal« gelten. Wobei viele weiße Menschen gar nicht bemerken, wie sehr die Welt für sie »gemacht« ist. Die vermeintliche Normalität beruht auf rassistischen und sexistischen Ausschlussmechanismen.

Dabei geht es nicht nur um die Frage, wen die Polizei auf der Straße kontrolliert. Rassistischer Ausschluss findet auch in unserem Alltag statt, wenn etwa entschieden wird, wer welche Chancen bei einem Bewerbungsgespräch hat. Welche Hautfarbe hat die Figur in dem Bilderbuch, das jemand seinem Kind vorliest? Wie oft spielen People of color die Hauptrolle in einem Film oder in einer Serie? Emilia Roig versucht in ihrem Buch einen weiten Bogen zu schlagen und diese Mechanismen in mehreren Bereichen sichtbar zu machen: von der Arbeitswelt und der Familie über die Rolle der Medien, den Schönheitsbegriff, die Gefängnisse und Krankenhäuser, den Rassismus auf der Straße bis hin zur Frage, wie gegen diese unterschiedlichen und miteinander verschränkten Arten von Herrschaft und Ausgrenzung gekämpft werden kann - und im Zuge der Protestbewegungen der vergangenen Jahre aktuell auch gekämpft wird. Auch wenn Emilia Roig in ihrem Buch reichlich feministische und anti-rassistische Theorie ins Feld führt, ist »Why we matter« weit davon entfernt, nur trockene Theorie oder politaktivistische Prosa zu sein. Das hat eben vor allem auch damit zu tun, dass die seit 2005 in Berlin lebende Emilia Roig, die unter anderem an der Humboldt-Universität arbeitete, die Theorie sehr anschaulich mit ihrer eigenen Biografie verknüpft.

Emilia Roig ist in einem Pariser Vorort aufgewachsen, ihr Vater ist weiß, jüdisch und wuchs in Algerien auf, die Mutter kommt aus Martinique. Anhand ihrer Familiengeschichte erzählt Emilia Roig auch viel über die historischen Kontinuitäten ebenso rassistischer wie sexistischer Ausgrenzung. Dadurch macht sie diese Mechanismen anhand der eigenen Biografie ganz praktisch nachvollziehbar. Wobei sie von sich selbst immer über das Persönliche hinausgehend als Teil einer Community erzählt. Dass sie damit streng genommen gültige wissenschaftliche Standards nicht einhält, ist ihr durchaus bewusst. »Mein Buch könnte alle Türen von Universitäten für mich verschließen, weil es mich als eine Person mit einer Erfahrung, mit Gefühlen, Meinungen und Positionen enthüllt, die eine Akademikerin - zumindest im europäischen Kontext - nicht haben sollte.« Dabei liefert »Why we matter« aber keine rein identitätspolitische Analyse unserer Gegenwart, sondern bezieht auch immer wieder die Kategorie der Klasse mit ein, so dass auf den zahlreichen Seiten dieses süffig geschriebenen Sachbuches auch die Kapitalismuskritik nicht zu kurz kommt.

Emilia Roig: »Why we matter«, Aufbau-Verlag, 397 S., 22 €.

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