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»Jetzt ist es Zeit, abzuliefern«
Kai Havertz ist nach einem schwierigen Halbjahr in London auf dem Weg zum Stammspieler im Nationaltrikot
Kai Havertz taugt neuerdings sogar zum Coverboy bei der deutschen Nationalmannschaft. Jedenfalls ziert das Konterfei des Fußballers von Chelsea London die Titelseite des in der Pandemie nur als digitales E-Paper verbreiteten Länderspielmagazins zum WM-Qualifikationsspiel gegen Nordmazedonien an diesem Mittwochabend in Duisburg. Dass der Blick des 21-Jährigen dabei gedankenverloren in die Ferne schweift, passt allerdings nicht ganz: Selten war der Jungstar einem Stammplatz so nah wie im Frühjahr 2021: Im dritten Spiel winkt ihm der dritte Startelfeinsatz hintereinander - denn dafür sprechen ein Tor und eine Vorlage bei den ersten Siegen in der Gruppe J gegen Island (3:0) und in Rumänien (1:0).
Hinter dem schon länger als das Toptalent des deutschen Fußballs gehandelten Havertz liegt keine einfache Zeit. »Es ist eine schwere Saison. Ich weiß, dass nicht alles glatt läuft«, gestand er gerade in Bukarest. Der verzögerte Wechsel zum FC Chelsea, die hohe Erwartungshaltung ob der fast 100 Millionen Euro hohen Ablösesumme, die Restriktionen durch die Coronakrise, die Turbulenzen an der Stamford Bridge durch die Entlassung von Vereinslegende Frank Lampard, die Inthronisierung des deutschen Trainers Thomas Tuchel - und nicht zuletzt der unerbittliche Terminplan eines englischen Spitzenklubs: All das zehrte an Havertz, der sich zu allem Überfluss im Herbst vergangenen Jahres noch eine Corona-Erkrankung einfing, über die er danach sagte: »Wichtig ist, dass alle verstehen, dass es kein Spaß ist.«
Trotzdem nannte ihn die britische Presse wahlweise »Fremdkörper« oder »Sorgenkind«. Vor allem fehlendes Durchsetzungsvermögen - tatsächlich ein Punkt, an dem der gebürtige Aachener noch arbeiten sollte - wurde ihm im rauen Alltag der wohl stärksten Liga immer wieder zum Vorwurf gemacht. »Du brauchst ein halbes Jahr, um dich zu akklimatisieren. Ich bin aber für die nächsten Wochen positiv«, erklärte Havertz nun. Sein Mitstreiter im deutschen Nationalteam Ilkay Gündogan, selbst seit fast fünf Jahren für Manchester City in der Premier League am Ball, konnte ihm da am Dienstag nur beipflichten: Anlaufschwierigkeiten seien ganz normal, »bei dem Alter umso normaler«. Ihm imponiere vielmehr, dass Havertz bereits in so jungen Jahren den Wechsel gewagt habe: »Ich würde mir noch mehr Spieler wünschen, die die Reise ins Ungewisse unternehmen, deshalb finde ich das außergewöhnlich.« Und über die Befähigung des Offensivallrounders müsse man doch nicht diskutieren: »Es ist sensationell, was für Anlagen er mitbringt.« Chelseas Trainer Tuchel sieht in Havertz sogar einen »einzigartigen Spieler, irgendetwas zwischen einem Neuner und Zehner.« Bei der Nationalelf trägt der gerade die Zehn.
Auch Bundestrainer Joachim Löw pries erst am vergangenen Sonntag wieder die Qualitäten von Havertz »im technischen Bereich und Torabschluss.« Der Spielertyp ist deshalb wichtig, weil die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes gerade mit einem Dreier-Sturm agiert, in der die Positionen und Laufwege keinen festen Mustern folgen, die Offensive agiere sogar »auf verschiedenen Ebenen«, wie Löw es beschrieb. Dafür braucht es Instinktfußballer wie Havertz, der seinen Part nun zweimal von der rechten Angriffsseite fast ähnlich interpretierte wie Thomas Müller beim FC Bayern München: immer wieder fallen lassen, häufiger ins Zentrum ziehen.
Daher stellt sich tatsächlich die Frage, ob eine Rückholaktion ungeachtet der unbestrittenen Qualitäten des Münchner Allesgewinners nicht eine wichtige Erfahrung blockieren würde: nämlich den EM-Ernstfall für einen der wenigen deutschen Topspieler aus den Jahrgängen von 1997 bis 1999. Vermutlich wird Löw diesen Aspekt in seine Überlegungen für die anstehende Europameisterschaft einfließen lassen. Es liegt an Havertz, jetzt noch weitere Argumente zu bieten, die Müllers Rückkehr nicht zwingend nötig machen. Aber nicht umsonst sagte er ja selbst: »Jetzt ist es Zeit, abzuliefern.«
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