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Der närrische Popliterat
Gute Laune in schlechten Zeiten: Joachim Lottmanns Corona-Roman »Sterben war gestern«
Das »Ende der Geschichte« war gekommen. Das zumindest schrieben die Leitartikler der »Qualitätszeitungen« (Joachim Lottmann), nachdem erst die Berliner Mauer gefallen war und dann der ganze Ostblock. Auf gewisse Weise behielten sie recht, wenn auch anders als sie sich dies pathostrunken ausgemalt hatten. Zwar brach nicht, wie erhofft, das Zeitalter des Friedens an (zumindest nicht in Kuwait, Jugoslawien, Ruanda und einem guten Dutzend weiterer Länder), dafür jedoch verloren viele Deutsche das Interesse an Geschichte.
All die Jahrzehnte war es darum gegangen, die Vergangenheit zu bewältigen. Nur so schien eine bessere Zukunft möglich. Entsprechend las sich die Literatur, die - so Lottmann in »Hundert Tage Alkohol« (2011) - »nachdenklich, verbittert und vergangenheitsbezogen sein musste. Vergangenheitsbezogen oder, noch besser, zeitlos. Sie musste die Gegenwart verlängern ins Zeitlose.«
Doch mit einem Mal musste nichts mehr verlängert werden. Es genügte aufzuschreiben, was im Hier und Jetzt passierte. Und das ohne irgendwelche Verweise aufs Gestern. Wenn in Christian Krachts »Faserland« (1995) der Ich-Erzähler einen Betriebsratsvorsitzenden anfauchte mit »Halt’s Maul, du SPD-Nazi«, konnte man davon ausgehen, dass es Kracht nicht um eine Sensibilisierung für das Dritte Reich ging. Und »nachdenklich« klang es schon gar nicht. Hier praktizierte jemand genau das, was Rainald Goetz 1993 in einem Interview gefordert hatte: »Schreib es uff! Schreib’s einfach uff! Die Geschichte uffschreiben, das ist es, ganz klar, ganz einfach, einfach druff! Das ist der wirklich coole Scheiß!« Dieses »Uffschreiben« nannte man Popliteratur.
Was irgendwo stimmte. Denn Pop - als Musikstil wie als Lebensgefühl - kennt nur die Gegenwart. Diese muss nicht unbedingt heil sein. Das vermeintlich locker-flockige Popliedchen »Robert De Niro’s waiting« der drei Bananarama-Mädchen handelt von sexuellem Missbrauch. Und »Pet Sounds«, jenes himmlisch-melodische Großwerk der Beach Boys, erzählt von der tiefen Traurigkeit eines einsamen Menschen. Doch weil sich die traurigen Menschen des Erdballs in der Einsamkeit des unglücklichen Strandjungen Brian Wilson wiedererkennen, fühlen sie sich nach dem Hören dieses Albums ein wenig weniger einsam.
Popliteratur leistet Ähnliches, wie Joachim Lottmann weiß: »Echte Gegenwartsliteratur gab den Lesern eine unbändige Kraft. Indem sie die Gegenwart zum Ausdruck brachte, egal ob in komischer oder depressiver Verfassung, machte sie Lust auf das eigene Leben.« Und keiner vermag diese Lust besser zu wecken als Lottmann selbst, der Baron Münchhausen der Gegenwartsliteratur. Er ist der einzige deutsche Autor, bei dem selbst der Wikipedia-Eintrag erstunken und erlogen ist. Lottmann kam nicht, wie dort behauptet, 1956 zur Welt, sondern erst 1959. Und dass er bis zu seinem 13. Lebensjahr in Belgisch-Kongo lebte, gehört ins Reich der Legenden - das Land befreite sich 1960 von seinen Kolonialherren.
Obwohl, so ganz sicher darf man sich bei Lottmann nie sein. 2016 beförderte er in »Hotel Sylvia« seinen Bruder per Schlaganfall ins Jenseits, nur um ihn in seinem aktuellen Roman »Sterben war gestern« wiederauferstehen und erneut sterben zu lassen, diesmal an Corona. Auch darf angezweifelt werden, ob er sein Auto, einen röchelnden Wartburg aus dem Jahr 1967, tatsächlich an Gregor Gysi verkauft hat, zumal dieser Wagen bereits in früheren Romanen chronisch vorm Kollaps stand und immer wieder stillgelegt und ausgemustert wurde. Aber was will man von einem Autor erwarten, der seinen Ich-Erzähler bei McDonald’s einen Doppelwhopper essen lässt und der behauptet, in Berlin sei eine Straße nach dem durch Polizisten getöteten Afroamerikaner George Floyd umbenannt worden.
Durch solche offenkundigen Schnitzer und Falschbehauptungen, die in seine Romane großzügig eingestreut sind, zerstört er seine Glaubwürdigkeit. Zu allem Übel ist er auch noch Opportunist. Wenn es um Geldbeschaffung und das eigene Image geht, redet der notorisch klamme »Johannes Lohmer« (so das kaum verschleierte Alter Ego von Joachim Lottmann) seinen Auftraggebern gern nach dem Mund. Er macht sich vorsätzlich zum Narren - und gewinnt dadurch Narrenfreiheit. Denn der Narr darf alles, sogar den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz seitenlang abfeiern.
Das Perfide daran: Nie weiß man bei Lottmann, ob er solche Provokationen ernst oder ironisch meint. Immer wieder schlägt er rhetorische Haken, um scheinbar zielstrebig jeden Fettnapf mitzunehmen. Ja, selbst dann, wenn er sich auf die richtige Seite schlägt, tut er dies aus den falschen Gründen. Er brandmarkt die Corona-Leugner als »Geisteskranke«, weil diese »die Geschäftsgrundlage meiner öffentlichen Existenz« zerstören: »Meine eigene lebenslang praktizierte Haltung zur öffentlich herrschenden Meinung war doch immer ganz ähnlich gewesen.«
Muss man das ernst nehmen? Natürlich nicht. Der Mann, der von sich selbst sagt: »Ich hatte Meinungen immer gehasst, mein ganzes Leben lang, schon in der Grundschule«, ist kein verkniffener Politautor, sondern ein bestens aufgelegter Popliterat. Und weil guter Pop immer auch gutes Entertainment ist, sorgt »Sterben war gestern« 350 Seiten lang für prächtige Laune. Lottmann trotzt nicht nur dem Virus, sondern auch der grassierenden Schwermut und Niedergeschlagenheit. Mehr Good Vibrations sind in einem Roman, der in Corona-Zeiten spielt, nicht möglich.
Und die Handlung? Die ist - wie in jedem seiner Romane - Nebensache. Der Weg ist das Ziel. Wie immer folgt Lottmann dem Zickzack-Prinzip. Als »Jugendforscher« (wie in »Die Jugend von heute« von 2004) mäandert und schwankt er durchs Leben, redet sich um Kopf und Kragen, um auf den letzten Seiten dann doch wieder die Kurve zu kriegen. Fortsetzung folgt.
Joachim Lottmann: »Sterben war gestern. Aus dem Leben eines Jugendforschers«, KiWi-Taschenbuch, 352 S., geb., 12€.
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