Zählung im Riff

Der Ökologe Andreas Dietzel hat die Monate der Pandemie für eine Bestandsaufnahme der Korallen der Erde genutzt

  • Barbara Barkhausen
  • Lesedauer: 4 Min.

Korallen sind eines der Sinnbilder für den Klimawandel geworden. Erwärmt sich das Meerwasser zu sehr, so verwandeln sich die zuvor farbenreichen Meerestiere in weiße und schwarze Gerippe. Ist solch eine Bleiche zu intensiv, dauert zu lange oder wiederholt sich in zu kurzen Abständen, sterben die Korallen. Das Great Barrier Reef in Australien hat seit den 1990er Jahren beispielsweise rund die Hälfte seiner Korallen verloren. Allein seit 2016 musste das Weltnaturerbe drei Massenbleichen durchstehen.

Eine Studie aus dem Jahr 2008 prophezeite gar, dass in den nächsten Jahrzehnten weltweit bis zu einem Drittel aller riffbildenden Korallenarten aussterben werden. Dieses Horrorszenario gab den Ausschlag für eine Gruppe Forscher an der James Cook Universität in Townsville, weiter zu forschen. »Wir wollten sehen, wie viele Korallen es insgesamt auf der Erde gibt, um dadurch abschätzen zu können, wie gefährdet sie wirklich sind«, sagte Andreas Dietzel, ein deutscher Korallenexperte, der die Studie leitete. Dazu zogen die Forscher Satelliten- und Feldbeobachtungen aus aller Welt heran.

Heraus kam eine erstaunliche Zahl: »Wir schätzen, dass es etwa 500 Milliarden Korallen weltweit gibt«, erklärte Dietzel in einem Zoom-Call. »Das sind ungefähr so viele Korallen wie Bäume in Amazonien oder Vögel auf der Erde.« Die Studie selbst beschränkte sich zwar auf den Pazifik, da jedoch ein Großteil aller Riffe der Erde im Pazifik liegen, »wird die weltweite Zahl von Korallen auch etwa um die 500-Milliarden-Marke liegen, insbesondere wenn man die Unsicherheiten in unseren Schätzungen berücksichtigt«, sagte der Forscher. Wenn hier von Korallen gesprochen wird, so sind nicht die Einzeltiere gemeint, sondern Kolonien. Die sind für den Biologen die eigentlichen Individuen. »Demografisch fungiert die Kolonie als eine Einheit, bestehend aus oft Dutzenden oder Hunderten von Polypen«, so Dietzel.

Die große Zahl klingt erst einmal erfreulich - vor allem da die Studie, die im Fachmagazin »Nature Ecology and Evolution« veröffentlicht wurde, ebenfalls zeigt, dass etwa ein Fünftel der 318 untersuchten Korallenarten jeweils mehr als eine Milliarde Individuen umfasst. Die acht häufigsten Arten sind sogar zahlreicher als die menschliche Weltbevölkerung. »Das ist vielleicht so überraschend auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass die Ausbreitung von einigen Korallenarten sich um die halbe Welt erstreckt, von der Ostküste Afrikas bis nach Französisch-Polynesien«, sagte Dietzel. Wichtig ist aber, dass die Zahlen der Forscher auch ein neues Licht auf das Aussterberisiko der Nesseltiere werfen. Denn: »Dass diese Arten über ihre gesamte globale Verbreitung aussterben, ist eher unwahrscheinlich«, ist Dietzel überzeugt.

Dennoch gehe von der globalen Erwärmung große Gefahr für die Korallenriff-Ökosysteme aus. Die Situation sei nach wie vor »äußerst besorgniserregend«, so Dietzel. An einzelnen Riffen würden verschiedene Korallenarten durchaus verschwinden. Außerdem sei die genetische Diversität innerhalb von Arten gefährdet. »Diese ist jedoch sehr wichtig für die Anpassungsfähigkeit von Korallen an sich ändernde Umweltbedingungen«, erklärte der deutsche Forscher. Künftig seien Riffe ein »weniger komplexes Habitat für Fische« und das wiederum werde die Zahl der Fische im Laufe der Zeit reduzieren. »Wir werden uns in Zukunft mit einer geringeren Biodiversität zufriedengeben müssen«, sagte er.

Korallenriffe sind eines der wichtigsten Ökosysteme der Welt: Sie beherbergen etwa ein Viertel aller Tier- und Pflanzenarten im Meer. Zudem sind Riffe für den Menschen von großer Bedeutung: Über 500 Millionen Menschen sind weltweit für den Fischfang wie auch für den Tourismus von ihnen abhängig. Das Great Barrier Reef brachte Australien vor der Pandemie beispielsweise rund sechs Milliarden Australische Dollar pro Jahr ein - umgerechnet rund 3,9 Milliarden Euro.

Außerdem schützen Riffe als natürliche Bollwerke die Küstengebiete bei Stürmen vor Erosion. Besonders gefährdet sind derzeit neben dem Great Barrier Reef die Riffe in der Karibik. »Weltweit unterscheiden sich die Schicksale von einzelnen Riffen aber oft dramatisch, selbst auf kleinstem Raum«, so Dietzel. Neben natürlichen Gründen sei meist ein menschlicher Einfluss - Abwasser oder Überfischung - erkennbar.

Schon heute ist klar, dass es bei den Korallen »keine wirklichen Gewinner« des Klimawandels gibt, wie etwa die Quallen gegenüber Fischen. »Es gibt eigentlich nur Arten, die mit den wärmeren Meerestemperaturen weniger schlecht zurechtkommen als andere«, sagte Dietzel. Deswegen sei es auch am Menschen, den Nesseltieren zu helfen.

Hoffnung geben mehrere Projekte: Beispielsweise versuchen Forscher des Australian Institute of Marine Science, verschiedene Korallen zu kreuzen, um so widerstandsfähigere Arten zu schaffen. Andere Projekte versuchen, so viele Einzelriffe wie möglich zu retten: Dazu gehören Versuche, hitzeresistentere symbiotische Algen mithilfe von Flugzeugen über Riffe zu sprühen oder widerstandsfähigere Korallenarten in andere Riffe zu transferieren. Einem australischen Meeresbiologen gelang es beispielsweise auch, mithilfe von Larven neue, gesunde Korallen auf beschädigten Riffen zu züchten.

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