Eine Revolution des Lächelns
Amin Khan bricht eine Lanze für den Aufstand der Jungen in Algerien
Während die Erinnerung an den erhabenen Beweis für die Existenz des algerischen Volkes durch die Novemberrevolution tödlich beschädigt schien, nachdem dieses Volk von dem Regime, das ihm gleich nach der Unabhängigkeit seine Freiheit geraubt hatte, so schwer misshandelt worden war, nimmt es heute seinen souveränen Marsch wieder auf, in der Sonne der unendlichen Möglichkeiten, die denen geboten werden, die sie wirklich wollen, denen, die zu Anstrengung, Opfer und Verwandlung bereit sind. Und während die Novemberrevolution die außergewöhnliche Leistung vollbracht hatte, ein Volk wieder aufstehen zu lassen, das durch die Kolonialisierung drohte vernichtet zu werden, sollte die Februarrevolution es auf die höchste Stufe der Existenz der Völker erheben, dahin nämlich, wo sie frei geworden sich selbst regieren.
Im Februar 2019 gehen Millionen Menschen in Algerien auf die Straße. Was sie fordern, sind die Umsetzung humanitärer Werte und die Implementierung einer politischen Führung, die integer die Rechte des Volkes vertritt.
Der Band vereint Beiträge zu den Demonstrationen und gibt Einblicke in politische und soziologische Hintergründe. Er vermittelt Einsichten für das Verständnis der gegenwärtigen Revolution wie auch Elemente für ein Nachdenken über die nächste Zukunft, und juristische, politische und psychologische Analysen. Zugleich scheint eine Poesie durch die Texte des Buches, die man gewissermaßen als ein Herzstück der moralischen politischen und intellektuellen Ansichten ihrer Verfasser bezeichnen kann.
Amin Khan, geboren 1956 in Algier geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaft und Philosophie in Algier, Paris und Oxford. Während seiner beruflichen Laufbahn war er Lehrer, Diplomat und internationaler Beamter. 1989 gründete er die algerische Assoziation für Zukunftsforschung, die er bis 1993 leitete. Khan ist Autor zahlreicher preisgekrönter Publikationen, darunter mehrere Gedichtbände.
Die aktuelle Revolution hat erträumt werden können, sie hat auch insgeheim, wider alle Vernunft erhofft werden können, sie hat in manchen Aspekten gedacht werden können, aber ihr Ausbruch, so herzhaft und ruhig, hat alle überrascht, das Volk selbst und die ganze Welt, durch ihren Umfang, indem sie im ganzen Land alle Generationen, alle sozialen Gruppierungen, alle ideologischen Tendenzen, alle politischen Meinungen zusammenbrachte, durch perfekte Selbstorganisierung, durch ihren durchweg friedlichen Charakter, durch ihren langen und machtvollen Atem, durch ihre scharfe Intelligenz und ihre unerschöpfliche Kreativität.
Diese Revolution, die zu erleben wir das unglaubliche Vorrecht haben, ist zunächst äußerst bewegend. Das Gefühl, das auf den Straßen, auf den öffentlichen Plätzen, in den Herzen, in den Blicken und Gebärden dominiert, ist Liebe, in all ihren Prägungen, in all ihren Abstraktionen, in allen Schattierungen und Nuancen. Das ist Liebe, die ihr Licht ausbreitet über die Gesichter und die Körper dieser jungen Mädchen, die seit Februar noch schöner geworden sind, dieser jungen Leute, die seit März noch schöner geworden sind.
Dieses Licht ist ein Licht, das die dunklen und bösen Jahrzehnte seit der Zeit der ersten Revolution machtvoll durchbricht. Der schöne Blick und die bewegte Stimme von Anne Steiner kommen mir gerade in den Sinn, wie sie von ihren Gefängnisgefährtinnen sprach, von diesen jungen Frauen, die für die Unabhängigkeit kämpften und die in den Kolonialverliesen eingekerkert waren, ihre Stimme nach einem langen Schweigen - ein blitzartiges Abtauchen in das Zentrum der Wahrheit: »… Sie waren so schön!« Dies ist das holde Licht der Revolution, und es bewegt mich tausendfach, dass manche der Heldinnen des Volkes noch unter den Lebenden weilen, unter den Zeugen der Wiedergeburt des leidenden algerischen Volkes, das noch einmal zurückgekehrt ist in dieses gute Licht, das über uns wacht, die Kränkungen abwäscht und das Beste in uns nährt. Die Liebe, die uns plötzlich die Luft nimmt, die Tränen kommen lässt und uns weinen macht auf der weißglühenden Straße bei dem Gedanken an diejenigen, die hier sein müssten, in der Menge, mitten im Volk in seiner großen Demonstration.
Es ist unmöglich ihre Namen zu kennen oder zu nennen, alle ihre Namen. All ihre Namen sind noch der weiße und dunkle Stoff, magisch, unzerstörbar und fundamental, die rohe Tinte, mit der in der Leidenschaft einer herrschsüchtigen Zeit geschrieben wird, das heilige Register der Millionen von Märtyrern, die ihr Leben gaben, auf dass dieses außergewöhnliche Volk lebe durch die Jahrhunderte. Es wäre merkwürdig, ihre Namen zu nennen wie bei einer Gedenkfeier, denn sie sind hier, unter uns, weder gehend noch unbeweglich, aber letztlich glücklich in dieser durchsichtigen Trauerzeit, die zwar schmerzhaft, aber letztlich doch heiter ist. Sie sind hier, jede, jeder mit seinem Blick, mit seiner Gebärde, mit seinem Lächeln, herzlich, ironisch, schalkhaft, intakt, so wie die Erinnerung sie bewahrt. Und diese unsere Liebe bewirkt, dass unsere Erinnerungen sich streifen, sich berühren, sich zu zerstreuen scheinen, sich mischen, und dass dieses Durcheinander köstlich ist, wie die Konfusion der Liebe eben.
Die Liebe bewirkt, dass die Leute, die Gegenstände, die Wörter, die Symbole zittern im Lichte des neuen Tages und neu entstehen vor den tief berührten Blicken, wie Neugeborene, neuen Wesen. Das Wahrzeichen selbst dieser Nation ist wie neu, es ist gerade von Tausenden von heute namenlosen Frauen gestickt worden, deren Namen aber in dem großen heiligen Verzeichnis schwarz auf weiß figurieren, Pfleger, Märtyrer und Kämpfer. Die Liebe bewirkt, dass ich euch neu sehe, ob Mann oder Frau, am Rand eines neuen Raumes, einer neuen Zeit, einer neuen Frage.
Die Liebe bewirkt, dass über den Umweg eines Satzes, manchmal auch eines Blickes oder einer Intonation deiner Stimme, Volk, Fragen, die ehedem so schwierig und so verzweifelt waren, sich plötzlich lösen wie die zurückgehaltene Atmung, wie der seidene Gürtel einer neuen Gattin in der Gegenwart, eine neue Verheiratete dieser wunderbaren Sache, von nun an nicht mehr unterdrückbar, nämlich das Wiedererstehen der Liebe, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Würde.
Die Liebe, das ist dieser Durst, dieser Stachel des Gewissens, der die Mengen trifft, das ist dieser unlöschbare Durst, den das Wasser einen Moment stillt, das eine alte Frau von ihrem mürben steinernen und schmiedeeisernen Balkon anbietet, der Durst und der eigentliche Hunger, den stillt in einem Augenblick das überraschende Festmahl, das sie herabkommen lässt in einem Korb mittels einer endlos langen Schnur. Aber, Mein Gott! Aber woher kommt diese Schnur? Woher kommt diese uralte Gebärde, ganz geprägt von der numidischen Schönheit eines Volkes, das schon oft belagert, verletzt und enteignet wurde, eines Volkes, das schon oft vertrieben, aber nie besiegt wurde, denn es ist niemals unterworfen worden!
Ein freies Volk von freien Männern und Frauen. Ein Volk, das geführt worden ist durch den Nebel der offiziellen Lügen und der therapeutischen Illusionen, mit einem strahlenden sechsten Sinn, dem Sinn für Gut und Böse; denn selbst wenn es zum Überleben erforderlich ist, den Feind zu betrügen, ihn in seinen Machtillusionen zu zermürben, selbst wenn sie zulange zum Schweigen und zur Sprachlosigkeit gezwungen worden sind, zur einsamen Innenschau, zur Ängstlichkeit, zu geheimnisvollen Träumen und unvermeidlichen Albträumen, so wissen die freien Frauen und Männer, dass sie niemals ihr Gewissen überlisten können, wenn sie nicht der schrecklichen Strafe der todbringenden Ungnade verfallen würden, sich selbst zu verachten.
Die Liebe ist die gerechteste Antwort auf alles, was sich bemüht, uns davon zu entfernen. Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Willkür, Korruption können da letztendlich nichts erreichen. All diese Geißeln zusammen haben dieses Volk nicht besiegt und werden es nicht besiegen. Manche, ja viele, zu viele haben geglaubt, dass die Algerier bis ins Mark infiziert worden seien, zerstört in ihrem Wesen, verdorben durch die Demütigungen, ihrer Intelligenz verlustig gegangen durch die Schule, die Medien, »die politische Klasse«, gezähmt durch die Macht ... Sie haben sich getäuscht.
Sie haben nicht die tief verankerte Kultur dieses Volkes, das über langen Epochen Widerstand geleistet hat, dieses Volk von herausragenden Kämpfern, dieses Volk von sehr langer Geduld, dieses Volk mit einem kostbaren Gedächtnis, immer verborgen fern von den Augen des Feindes, ein Gedächtnis, das eine entscheidende Quelle des Mutes ist, das es permanent schmiedet, und das täglich wächst zu einer wunderbaren Waffe, der Waffe der Intelligenz, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Würde.
In ihrer primären Verachtung und ihrer erbärmlichen Dummheit verwechselten sie die Gesehenen, ihre »Brüder«, mit der Inkarnation dessen, was sie nicht als sich selbst verstehen können: Vogelscheuchen von historischem Dreck, von moralischer Verkommenheit und trister Ruchlosigkeit, Schlacken weich und kalt geworden, krank und böse, die der uralte Vulkan der großen menschlichen Würde des algerischen Volkes weit von sich wirft. Sie haben geglaubt, dass die Algerier unterworfen seien, während sie nur ihr eigenes Gesicht zeigten, nämlich dass sie beherrscht waren durch Unwissenheit, Unkultur, Gier und dass sie nur zu gerne die Keime der Prostitution, der Entfremdung und des Verrates aufnahmen.
Die Februarrevolution ist eine überwältigende moralische Erhebung. Mit ihrem mächtigen Arm reißt sie die konkrete Wahrheit aus dem schmutzigen Schlamm des materiellen und moralischen, wirtschaftlichen und sozialen, politischen und intellektuellen, psychologischen und kulturellen Sumpfs, in dem eine böse Macht versucht hat sie zu ertränken und zu ersticken, ein Volk, seine Geschichte und seine Werte. Durch ihre Haltung, ihr Verhalten sind die Algerier, zu Millionen, in ihrer überwältigen den Mehrheit am helllichten von Sonne beschienenen Tag erschienen als diejenigen, die sie sind. Den Antipoden der niederträchtigen lokalen wie ausländischen Propaganda, die allzu oft dazu tendierte, die Algerier als disziplinlos, faul und ungebildet, schnell bereit zur Gewaltanwendung und anderen psychologischen und moralischen Fehlern darzustellen, haben die Algerier zu Millionen vereint im öffentlichen nationalen und weltweiten Raum, die Klischees zerrissen, mit denen sie ausstaffiert worden waren, und haben ohne Großtuerei oder Selbstgefälligkeit das Antlitz von Frauen, Männern und Kindern gezeigt, die würdig und stolz sind, mutig, aufrecht, sensibel und großzügig, aufmerksam untereinander, respektvoll, offen, frei und brüderlich.
Die Februarrevolution ist ebenso eine würdevolle ästhetische Revolution. Da sie nicht mehr in einer Umgebung leben konnten, die geprägt war von moralischem Schmutz, von intellektueller Bedürftigkeit, von Korruption, von administrativer Inkompetenz der »Regierenden«, die in jeglicher Hinsicht unwürdig waren, haben die Algerier, vor allem die jungen - ohne Überraschung, denn sie sind es, die jungen Leute zwischen 20 und 35 Jahren, die Geist und Körper dieser großen friedlichen Revolution sind und die alle anderen Generationen mit sich mitgerissen haben - es unternommen die Straßen ihrer Städte und Dörfer zu säubern, ihre Viertel zu verschönern, die Schönheit ihrer Landschaften und ihres Landes wieder herzustellen. Gebäudemaler oder (malende) Künstler oder inspirierte Bürger, alle machen sich dran. Wieder bemalte Stufen, Fresken, Gedichte und Sprüche an den Mauern, Gärten wieder eingefasst und arrangiert, sie alle sind ebenso Zeichen des Glücks wie des Willens, mit allen Mitteln die Hässlichkeit und das Ersticken zu bekämpfen.
Algerien, demütig, würdevoll in seiner Wahrheit, seiner Nüchternheit, seinem Mut, seiner Geduld, seiner Schönheit findet heute wieder seine Stimme, seinen Weg, seine Berufung. Diese Revolution, die man manchmal, schamhaft vielleicht, Revolution des Lächelns nennt, ist schon, wie immer auch ihr Ausgang sein mag, eine Revolution populären und demokratischen Wesens, eine Revolution der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Würde.
Amin Khan (Hrsg.)
Im Aufbruch
Aus dem Französischen, Arabischen und Englischen von Tina Aschenbach, Norbert Becker, Mohamed Khoudir und Ilyes Senhadji
Verlag Donata Kinzelbach
200 S., kt., 22,00 €
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.