Die Anbetung der harten Hand

Die US-Historikerin Anne Applebaum sorgt sich um die Verlockung des Autoritären

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie Vizepräsidentin Kamala Harris Jahrgang '64, besitzt Anne Applebaum die Staatsbürgerschaft der USA und Polens. Unterbrochen von wiederkehrenden Aufenthalten in London und ihrer Geburtsstadt Washington lebt die jüdische Journalistin und Historikerin seit gut dreißig Jahren in unserem Nachbarland. Sie ist mit dem konservativen polnischen Ex-Außenminister Radek Sikorski verheiratet, und auch sie versteht sich als bürgerlich-liberal. Die Standortbeschreibung hilft, sowohl sie selbst als auch die Perspektive ihres neuen Buches »Die Verlockung des Autoritären: Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist« zu verstehen. Das Buch ist mithin keine linke Kritik am Phänomen des Autoritären und Autokratischen. Es handelt sich um die bürgerliche Sicht auf eine Erscheinung, die in den vergangenen Jahren weltweit immer stärker geworden ist und die nicht zuletzt im - locker ausgedrückt - Anhimmeln der harten Hand Ausdruck findet: Nicht so viel demokratisch reden, einfach machen und nicht lang fackeln ...

Das Buch zerfällt in einen stärkeren Teil, in dem die Verfasserin das Phänomen grundsätzlich ausleuchtet. Und in eine Fülle episodischer Beispiele, die zunächst für Lesbarkeit, in ihrer Vielzahl später leider für Verzettelung und offenbleibende bzw. unbefriedigende Antworten sorgen. In den Beispielen beschreibt sie eine nicht für möglich gehaltene gegenseitige Entfremdung von Freunden und Bekannten. So beginnt Applebaum mit einer Silvesterparty 1999, zu der sie und ihr Mann, damals Vizeaußenminister, Freunde in ihr polnisches Landhaus eingeladen hatten. Journalisten aus London und Moskau, Jungdiplomaten aus Warschau, Freunde aus New York und viele Polen nahmen teil. Bei Unterschieden in Herkunft und Beruf habe es sich um Konservative und Liberale gehandelt, die an Demokratie und Rechtsstaat, an Gewaltenteilung, die Nato und den damals anstehenden EU-Beitritt Polens geglaubt hätten.

Heute, schreibt sie, sei von dieser Einigkeit nichts mehr übrig. Heute würde sie beim Anblick einiger der Partygäste eher die Straßenseite wechseln, als ein Gespräch mit ihnen zu suchen. Dito umgekehrt. Was sie veranlasste, damit das Buch zu beginnen, war ihre Erkenntnis: »Die Entfremdung ist politischer, nicht persönlicher Natur.« Die einstigen Konservativen Polens, aber auch Ungarns, Spaniens, Frankreichs, Italiens und zum Teil Britanniens und der USA seien heute in zwei Lager gespalten. Während sich Applebaum, ihr Mann und andere für einen pro-europäischen, marktwirtschaftlichen Konservativismus oder einen Weg links der Mitte aussprächen, machten sich z.B. polnische Ex-Freunde nun für die regierende nationalistische PiS-Partei stark, die radikalen Gesinnungs- und Politikwandel hinter sich hat, frauenfeindlich, paranoid und offen autoritär handelt. Wie in Viktor Orbáns Ungarn oder Donald Trumps Amerika macht die PiS islamische Zuwanderer zur Zielscheibe, verunglimpft Homosexuelle (»regenbogenfarbene Pest«), und einige der damaligen Silvestergäste mauserten sich zu Verschwörungstheoretikern, Antisemiten oder Internettrolls, die etwa Applebaum als »jüdische Drahtzieherin einer internationalen Pressekampagne gegen Polen« denunzieren.

Sie fragt, wie es dazu kommen konnte und stellt fest, dass diejenigen, die sich radikalisierten - nicht bloß in Polen - oft nicht zu den wirtschaftlichen Verlierern gehörten und ihre Jobs auch nicht an Immigranten einbüßten. Der Wechsel, schreibt Applebaum mit Verweis auf die Verhaltensforscherin Karen Stenner, erkläre sich zum einen damit, »dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe«: Diese sehne sich »nach Homogenität und Ordnung und kann latent vorhanden sein, ohne sich äußern zu müssen, genau wie ihr Gegenteil, die freiheitliche Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugt«. Stenners Autoritarismusdefinition habe Menschen im Blick, »die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder ›links‹ noch ›rechts‹, sondern grundsätzlich anti-pluralistisch. Sie misstraut Menschen mit anderen Vorstellungen und ist allergisch gegen offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten.« Doch die Schwäche von Menschen für harte Autokraten ist nach Applebaums Analyse keine ausreichende Erklärung für deren Erfolg. Um herrschen zu können, müssten Autokraten möglichst große Teile der Öffentlichkeit erreichen. Dafür mobilisierten sie unter den heutigen Bedingungen der Internet-Revolution Autoren, Intellektuelle und Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Juristen, um der Öffentlichkeit ein von den Autokraten gewünschtes Bild zu verkaufen. Die Handlanger zettelten Unruhen an, verbreiteten Verschwörungstheorien und begründeten die Notwendigkeit des Umbruchs bis zum Verfassungsbruch. Einmal mehr bezieht sich Applebaum auf die australische Wissenschaftlerin Stenner, die davor warnt, autoritäre Veranlagung vorschnell mit Verbohrtheit gleichzusetzen. Sie beschreibe sie »lieber als Schlichtheit«. Viele Menschen fühlten sich zu autoritärem Denken verführt, weil sie keine Diskussionen mögen, sie wünschten sich Einigkeit. »Bei einer plötzlichen Konfrontation mit Vielfalt, sei es von Meinungen oder Erfahrungen, verlieren sie die Fassung. Sie suchen Lösungen in einer neuen politischen Sprache, die mehr Gewissheit und Sicherheit verspricht.«

Wenn dies stimmt, liegt hier eine wichtige Erklärung für den Erfolg von Autokraten wie Trump, Le Pen oder Orbán. Und eine neue Bestätigung für die alte Beobachtung des französischen Philosophen Michel de Montaigne. Er beklagte bereits im 16. Jahrhundert: »Nichts wird so fest geglaubt wie das, was wir am wenigsten wissen.«

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären: Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. A. d. Amerik. v. Jürgen Neubauer. Siedler, 208 S., geb., 22 €.

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