Wandernde Menschen, wandernde Räume

Dong Xuan und Dogil Maeul: Die Ausstellung »MigraTouriSpace« in Berlin porträtiert zwei migrantisch geprägte Orte mit touristischer Anziehungskraft

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Imbissbude verkleidet gibt das CLB am Berliner Moritzplatz von außen einen Einblick in das, was sich Inneren verbirgt. Die hohen Glasfenster und Türen sind mit einer durchsichtigen Fotofolie beklebt, die ein deutsch-asiatisches Schnellrestaurant zu zeigen scheint. Der Schriftzug auf den roten Markisen des Bistro 36 verspricht in lateinischen Lettern neben koreanischen Schriftzeichen »Beer & Currywurst«.

Wer den Hintereingang des Ausstellungsraums wählt, der sich zeitgenössischer Kunst, Kulturwissenschaft und Urbanismus verschrieben hat, wird von einem Panorama mit weißen, an sanfte Hügel gebauten Häusern mit spitzen roten Dächern empfangen. Was hier so typisch deutsch anmutet, ist ein Ort in Südkorea: Dogil Maeul, das »deutsche Dorf«.

Die Ausstellung »MigraTouriSpace« von Stefanie Bürkle, Künstlerin, Stadtforscherin und Professorin für Bildende Kunst am Institut für Architektur an der TU Berlin, setzt sich mit zwei Orten auseinander, die aus einem kulturellen Kontext in einen anderen verpflanzt zu sein scheinen. Neben Dogil Maeul wählte Bürkle das vietnamesische Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg. Über drei Jahre hinweg hat sie diese beiden Orte mit ihrem Team aus Architekt*innen und Stadtforscher*innen besucht und erkundet. Sie fotografierten, filmten und führten Interviews.

Auf großen Leinwänden sind in der Ausstellung Ergebnisse dieser künstlerischen Forschungen zu sehen. Textpassagen aus den Interviews werden an eine Wand projiziert, bewegte und unbewegte Bilder zeigen die langen Gänge des Dong Xuan Centers mit bunten Winkekatzen, Plastikblumenbergen und Fleischtheken, auf denen Schweinefiguren sitzen. Eine Kellnerin steht am Tresen eines Restaurants und blickt versunken auf ihr Handy. Besucher*innen schlendern durch die Gänge, begutachten Kleidungsstücke. Außerdem Blicke auf aufgeräumte Straßen und ins Innere weiß getünchter Häuser: dunkle Holzmöbel, schwere Bierkrüge, Porzellanteller.

Ab und zu eine kurze Irritation: Wo befinden wir uns? Ein Gefühl, das die Ausstellungsmacher*innen von ihrer Recherchereise nach Dogil Maeul kennen. »Wenn man morgens aufwachte und aus dem Fenster guckte, gab es diese Millisekunde, in der man sich fragte, wo man gerade ist«, erzählt die Urbanistin und Architektin Janin Walter. An beiden porträtierten Orten werde man »in die Ursprungsatmosphäre katapultiert«. Gleichzeitig gibt es Unstimmigkeiten. Das »Deutsche« stellt sich in der Ausstattung der koreanischen Häuser teilweise so übertrieben dar, dass es sich wie ein Klischee anfühlt.

Viele Gegenstände und Materialien haben die Bewohner*innen aus Deutschland mitgebracht und versucht, alles so zu machen, wie man es dort machen würde. »Wir haben aufgepasst wie ein Luchs«, sagt eine Frau im Interview. Geplant wurde das »deutsche Dorf« in der Provinz Namhae vor 20 Jahren für Südkoreaner*innen, die nach Deutschland ausgewandert waren und zurückkommen wollten, berichtet Janin Walter. Der damalige Bürgermeister wollte mit der deutschen Siedlung denjenigen danken, die die Heimat aus der Fremde unterstützt hatten - und einen touristischen Anziehungspunkt schafften.

Es kamen beispielsweise einige der vielen koreanischen Krankenschwestern zurück, die in den 1970er Jahren nach Westdeutschland emigriert waren - teilweise mit deutschen Partnern. Sie bekamen günstige Grundstücke und investierten ihr Erspartes in einen Alterswohnsitz mit Spitzdach.

Inzwischen ist um das »deutsche Dorf« eine Art Speckgürtel mit Gastronomie und Souvenirläden entstanden. »Mittlerweile ist es so: Jeder Koreaner muss einmal im deutschen Dorf gewesen sein«, erzählt ein Bewohner. Im Wohngebiet hingegen sei es nicht erlaubt, Gewerbe zu betreiben, erzählt Janin Walter. Das sollte eine Disneylandisierung des Ortes verhindern. Aber: Tourist*innen wollen auch essen und trinken.

Ein Interviewpartner erzählt, er denke, dass die Einwohner*innen mit dem Bezug zu Deutschland irgendwann aussterben. Was bleibe, sei die Vermarktung des Ortes. Es zeichneten sich Konflikte ab - ähnliche wie in Lichtenberg, wo das Dong Xuan Center als Großhandelszentrum und nicht als gastronomisch attraktives Ausflugsziel geplant worden war, erzählt Stefanie Bürkle. Es wurde auf einer Industriebrache in Lichtenberg gebaut und ist ein Anziehungspunkt nicht nur für vietnamesischen Menschen geworden. »Man fühlt sich wieder wie in seiner Heimat«, sagt einer der Interviewten. »Das ist wirklich ein Stück Vietnam in Berlin.« Das Großhandelszentrum ist zu einem bedeutsamen Faktor der Stadtentwicklung geworden und verändert auch die Umgebung.

Stefanie Bürkles künstlerischer Recherche liegt die Beobachtung zugrunde, dass nicht nur Menschen reisen, sondern auch Räume. Migrant*innen eignen sich Orte an und gestalten diese nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Daran zeige sich, dass Integration längst stattgefunden habe, sagt die Künstlerin. Teilweise mit dem Ergebnis, dass sich migrantisch geprägte Orte zu touristischen Anziehungspunkten entwickeln. »Tourismus ist dabei, aber nur ein Aspekt. Migration ist im Allgemeinen eine Chance für Stadtveränderung - auch, wenn das nicht konfliktfrei abläuft«, so Bürkle. Übertragen ließen sich die Fallbeispiele nur bedingt. Eine Besonderheit beider Orte sei, dass sie von der öffentlichen Hand geplant wurden. Und beide sind trotz aller Spannungen Erfolgsgeschichten, erzählt Stefanie Bürkle.

Das Ausstellungsprojekt ist Teil des Sonderforschungsbereichs »Re-Figuration von Räumen«, der Anfang 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Technischen Universität Berlin eingerichtet wurde. Ziel ist die Untersuchung der Veränderungen der sozialräumlichen Ordnungen, die seit den späten 1960er Jahren zu beobachten sind.

Die aus dem Projekt hervorgegangene Ausstellung im CLB entführt angenehm unaufgeregt in fremd-vertraute Welten. Die langsamen Bilder zeigen Alltag und blicken auch hinter die Kulissen belebter Orte. Sie spielen mit den Wahrnehmungen und Assoziationen, ohne eine Deutung vorzugeben.

Im Kontext der Pandemie bekommen die Themen Migration und Tourismus weitere, ungeplante Bedeutungsebenen. In eine deutsch-koranische Currywurstbude einzutreten und sich auf eine Bilderreise zu begeben, ist eine willkommene und ungewohnte Abwechslung in diesen Zeiten.

Warum aus dem Projekt eine Ausstellung und nicht nur ein Katalog geworden ist? Vielleicht führt diese Art des Betrachtens zu anderen Empfindungen und Erfahrungen. Stefanie Bürkle berichtet von einem Erlebnis bei einer Ausstellung über türkische Migrant*innen, die im Rentenalter zurück in die Heimat gehen und dort deutsche Häuser bauen. Die Bilder hätten deutsche Besucher*innen bewegt, erzählt die Künstlerin. Nach dem Motto: Da leben sie 30 Jahre in Deutschland, und man bekommt nichts von ihnen mit. Und dann gehen sie zurück und nehmen so viel mit. In diesem Sinne präsentieren sich das Dong Xuan Center und Dogil Maeul als Extrembeispiel für die Tatsache, wie viel mitwandert, wenn Menschen sich bewegen.

Auch bei Stefanie Bürkle und ihren Kolleg*innen wandert vieles mit. Gedanken und Beobachtungen aus vergangenen Projekten bleiben hängen und führen zu neuen Ideen. Die nächste Recherche führe sie nach Venedig, erzählt die Künstlern. »Die Stadt, die den Tourismus eigentlich erfunden hat.«

»MigraTouriSpace - Raummigration und Tourismus. Ein Kunst- und Forschungsprojekt«, CLB Berlin - Collaboratorium im Aufbau Haus am Moritzplatz, Berlin.

Zur Ausstellung erscheint ein Buch mit Texten zum Projekt und zum Forschen mit Kunst.

Live-Stream aus der Ausstellung am Freitag, 30. April um 18 Uhr. Mehr Infos unter: www.artpress-uteweingarten.de

www.stefanie-buerkle.de

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