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In der Kinderzimmer-Hölle
Soziale Isolation: Während der Corona-Pandemie hat der Opioidmissbrauch in den USA stark zugenommen
Die Corona-Pandemie zwang Eli mit 21 Jahren ins ehemalige Kinderzimmer bei den Eltern in eine Kleinstadt in Upstate New York zurückzukehren. Im März 2020 entschied Elis Universität wie viele andere Hochschulen weltweit, Präsenzveranstaltungen zu streichen. Auch die »dorm-rooms« - Zimmer in Studentenwohnheimen, die sich die Studierenden meist zu zweit teilen - mussten schließen. Eli ist nichtbinär, fühlt sich also weder männlich noch weiblich, und liebt Männer. Elis Eltern hingegen sind christliche Konservative. Eli fühlte sich unwohl, wieder zu ihnen zurückkehren zu müssen. »Ich war unglücklich, fühlte mich zu Hause eingesperrt.«
Schon auf der Universität hatte Eli angefangen, Opioide zu nehmen. Vielleicht auch wegen der Schwierigkeiten im Studium. Eli hatte Zweifel, ob das Ingenieursstudium richtig war, ein Fachwechsel vielleicht besser wäre, oder vielleicht doch eine Auszeit notwendig wäre. »Das Gute daran ist das Gefühl der Selbstsicherheit, das dir die Drogen geben. Doch sie haben mich auch zu einer weniger vertrauenswürdigen Person gemacht, ich fing an, mit Leuten abzuhängen, nur um an Drogen zu kommen«. Eli nutzte Internetseiten im Dark Web, um Oxycontin und andere Morphine per Post an die elterliche Adresse geschickt zu bekommen. Dazu kamen Alkohol und das synthetische Opioid Fethanyl.
Ein Land auf Pillen, ein Land mit Schmerzmitteln überschwemmt – auch das sind die Vereinigten Staaten. Zwar gibt es Opioide schon seit dem 19. Jahrhundert, aber erst durch die Einführung von Oxycontin durch den Pharmakonzern Purdue im Jahr 1996 verbreiteten sie sich – mittels einer umfangreichen Marketingkampagne, die die Gefahr der Abhängigkeit herunterspielte.
In den Folgejahren wurde die die Tablette zum Treiber einer neuen Welle von Drogenabhängigkeit, die vor allem das weiße USA und ländliche Landesteile betraft. Wegen dem Fehlen einer allgemeinen staatlichen Krankenversicherung und der Tatsache, dass deswegen teurere Therapien zugunsten einer schnellen Verschreibung von »billigen« Schmerzmitteln vernachlässigt werden, ein spezifisches US-amerikanisches Problem. 2019 hatten 47 von 100 Menschen eine solche Verschreibung von ihrem Doktor, insgesamt 153 Millionen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, von denen geschätzt 10 Millionen in Abhängigkeit rutschten.
Zwischen 1999 und 2017 gab es in den USA insgesamt rund 400 000 Tote wegen Opioid-Abhängigkeit und Überdosen. In den vergangenen zehn Jahren kamen potentere synthetische Opioide wie Fethanyl auf den Markt. Seit etwas mehr als zehn Jahren wird die Epidemie verstärkt bekämpft durch staatliche Hilfsprogramme und die Politik. 2017 forderte die US-Lebensmittelbehörde FDA Purdue Pharma auf, Oxycontin vom Markt zu nehmen. Der Pharma-Konzern meldete 2019 Konkurs an, um hunderten Schadensersatzklagen zu entgehen. Seitdem wird vor Gericht über die Modalitäten des Konkurses und Milliardenzahlungen an Oxycontin-Opfer gestritten. mwi
Wie im Nebel
Schon nach wenigen Wochen in der elterlichen Wohnung nahm Eli eine Überdosis - und wurde gerettet. Vielleicht war es ein Selbstmordversuch, sagt Eli. »Ich wollte mich einfach nur abfucken, mir war egal, ob ich leben oder sterben würde.« Die nächste Erinnerung nach dem Blackout? Das Innere eines Krankenwagens. Die folgenden Wochen fühlte sich Eli wie im Nebel. Während die Leute draußen begannen, Masken zu tragen, Klopapier zu horten und gespannt auf Corona-Neuigkeiten zu warten, war Eli im Entzug - und erinnert sich an kaum etwas aus der Zeit zwischen März und Mai 2020. »Ich habe Gehirnschäden davongetragen, war aggressiv und aufgeregt, so wurde es mir jedenfalls erzählt.«
Schon vor der Corona-Pandemie war der Missbrauch von Opioiden und Schmerzmitteln ein Problem im Land, in den vergangenen Monaten hat der Missbrauch sich noch verschärft. Laut Daten des Center for Disease Control (CDC), vergleichbar etwa mit dem deutschen RKI, sind zwischen Juni 2019 und Juni 2020 rund 81 000 Amerikaner an einer Überdosis gestorben - ein Anstieg von 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Die Daten, die für die Zeit der Corona-Pandemie bereits vorliegen, sind alarmierend. In Kalifornien kam es zu einem Anstieg der Drogentoten von 21 Prozent zwischen dem ersten und zweiten Quartal 2020 - als der Shutdown einsetzte. In Ohio war die Zahl der Opioidtoten im zweiten Quartal die höchste der vergangenen zehn Jahre. In Cook County, dem Landkreis, in dem die Millionenmetropole Chicago liegt, schoss die Zahl der Opioidtoten um 35 Prozent nach oben, verglichen mit 2019. Eine im Februar veröffentlichte Studie, die Daten zu 190 Millionen Notaufnahme-Besuchen in US-Krankenhäusern zwischen Juni und Oktober 2020 analysiert, zeigt: Die Zahl derer, die wegen einer Opioid-Überdosis eingeliefert wurde, stieg im Coronajahr 2020 um 28,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Verantwortlich für die steigende Zahl an Menschen mit Überdosis ist nicht ausschließlich die Corona-Pandemie. Die Zahl der Drogentoten stieg auch schon in den Jahren zuvor. Nicht zuletzt, weil der Missbrauch der synthetischen Droge Fethanyl, die viel stärker als Heroin wirkt, grassiert und besonders in den vergangenen fünf Jahren für viele Überdosis-Tote gesorgt hat.
Doch Experten sagen, die Corona-Pandemie habe die Drogenkrise in den USA verstärkt: Soziale Not, Einsamkeit und Angstzustände treffen auf ein Land, in dem Opioide einfach zu bekommen sind. »Viele Menschen fühlen sozialen Schmerz, weil sie auf verschiedene Art und Weise isoliert sind«, sagt Rachel Wurzman, Gehirnforscherin und Direktorin bei SeekHealing, eine Nichtregierungsorganisation in Asheville, North Carolina, die Abhängigen bei der Überwindung ihrer Sucht hilft.
An vielen Orten, vor allem in ländlichen Gebieten, wo es kaum Krankenhäuser, geschweige denn spezielle Hilfsprojekte für Drogensüchtige gibt, ist auch die Lokalpolizei der »first responder«, muss reagieren, wenn Menschen einfach auf der Straße zusammenbrechen mit einer Opioid-Überdosis. In einigen Gegenden im Land ist die Polizei deswegen mittlerweile mit Naloxon-Kits ausgerüstet. Das medizinische Mittel ist eine Gegendroge und kann, rechtzeitig angewendet, bei einer Überdosis den Tod verhindern.
Corona-Hilfen nicht für Drogenabhängige
Auch wenn das Coronakrisen-Hilfspaket der Regierung von US-Präsident Joe Biden, der »American Rescue Plan«, rund 1,9 Billionen Dollar für viele verschiedene Sozialprojekte enthält: Hilfen für Drogensüchtige sind nicht dabei. Für viele ärmere Betroffene setzt sich damit ein altes Problem fort. Einige Hilfsstellen wie Entzugskliniken stehen wegen ihrer Kosten nur Besserverdienern offen.
»Viele Leute« würden sich wieder »schlechten alten Gewohnheiten zuwenden, wenn ihre sozialen Bedürfnisse nicht erfüllt werden«, weil in der Pandemie »Büros, Bars, Familientreffen und viele andere Orte des sozialen Lebens plötzlich gefährlich sind«, sagt Wurzman. Das steigere ein Gefühl der Isolation, Online-Ersatzformate seien oft nicht ausreichend, die »menschliche Verbindung« fehle.
Einige Anlaufpunkte für Süchtige blieben auch zu Pandemie-Zeiten offen. Doch Gruppen wie »Anonyme Drogensüchtige« waren weniger erreichbar. In normalen Jahren gab es zweimal pro Woche physische Treffen. Während der Pandemie wurde es schwieriger. Einige trafen sich online, andere in den warmen Monaten in Parks oder auf öffentlichen Plätzen. Deshalb und angesichts von »Stress, Angstmacherei und politischer Spaltung«, sei es verständlich, dass manche »Zuflucht in einer Nadel oder Pille« suchen, sagt Wurzman.
Für den 21-jährigen Jesse hingegen war es die Langeweile der Covid-19-Tage, die seinen Drogenkonsum eskalieren ließen. Auch er lebt bei seinen Eltern im Norden von New York, arbeitet bei einer Immobilienagentur, für die er Häuser reinigt. Oft ist er dabei alleine, er hat unregelmäßige Arbeitszeiten, die Tage unterscheiden sich kaum. »Ich bin isoliert, und es ist manchmal langweilig«, sagt er. Marihuana half ihm als Jugendlicher abends einzuschlafen.
Als die Wirkung nicht mehr reichte, nahm er Heroin - wie in der traditionellen Klischeegeschichte aus der Schule, die Schüler warnen will. »Es war für mich eine Einstiegsdroge, so wie sie immer sagen«, meint Jesse. Opioide sind über soziale Onlinenetzwerke in seiner Gegend einfach zu erwerben, Süchtige im Ort sind nicht zu übersehen. »Immer mal wieder siehst du hier Leute herum liegen, die einfach auf der Straße oder im Park zusammengebrochen sind«, erzählt er. Auch er und sein Bruder nahmen im vergangenen Jahr eine Überdosis. Seine Großmutter belebte seinen Bruder mit einer Naloxon-Spritze wieder. Jesse dagegen wurde von seinen Eltern ohnmächtig aufgefunden und von Rettungssanitätern wiederbelebt. Sein Bruder ging in eine Reha-Klinik. Jesse entschied, einfach weiterzumachen. Für ihn sind die Drogen Teil seines Lebens, auch wenn er versuchen will Geld zu sparen und in eine eigene Wohnung zu ziehen. Seine Eltern waren früher strikt gegen Drogenmissbrauch. Weil er jetzt erwachsen ist, gibt es nun aber keine »strengen Diskussionen« mehr.
Im Kreislauf gefangen
Bei Eli war das anders. Die Eltern konfiszierten Laptop und Handy, in der Hoffnung, so könne ihr erwachsenes Kind keine Drogen mehr kaufen. Doch das hatte weitere soziale Konsequenzen: Eli war nun auch noch digital von den Freunden abgeschnitten und wurde apathisch. Eli hat mittlerweile eine Studienpause eingelegt und arbeitet als Verkäufer in einem Geschäft. Vor Kurzem dann der Rückfall: Eli bestellte erneut online Morphine und Fenthanyl. »Es war eine Kurzschluss-Reaktion«, sagt Eli und versucht, das Paket abzufangen, damit die Eltern es nicht in die Hände bekommen. Warum Eli das getan hat? »Ich fühle mich allein und depressiv«. Dieses Mal will Eli die Drogen umsichtig nehmen.
Und was ist mit Plänen für die Uni und das Leben nach der Pandemie? Eli hat keine. Im Moment geht es einzig um dieses Päckchen mit Opioiden.
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