Zuhause bleiben - ohne Zuhause

Die Lebensrealität vieler Obdachloser ist während der Pandemie noch härter geworden - trotz Hilfsangeboten

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Berlin. Mit seinem schwarz-weißen Trainingsanzug und den buschigen Koteletten, die unter seiner Nase zu einem Schnurrbart zusammenwachsen, wirkt der 34-Jährige wie ein gefeierter Preisboxer. Dass dieser Mann lange Zeit kein festes Dach über dem Kopf hatte, sieht man ihm nicht an. »Ich habe sehr viele Jahre auf der Straße gelebt - sehr viele«, sagt er der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Kalter Wind zieht an diesem Apriltag durch die Hauptstadt - vielerorts wird über Ausgangsbeschränkungen diskutiert. »Wir Menschen auf der Straße haben Kontakt mit einer Menge Leute«, erzählt der Mann. Mittlerweile ist er geimpft. Angst vor Nebenwirkungen habe er nicht. Seine Freunde aber machten ihm Sorgen: »Mehr und mehr« hätten sich in den letzten Monaten mit Corona angesteckt.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Wie viele Menschen aktuell in Berlin auf der Straße leben - darauf hat der Senat auf dpa-Anfrage keine genaue Antwort. Bei einer ersten freiwilligen Obdachlosenzählung im Januar 2020 sei man auf knapp 2000 Menschen gekommen.

Bundesweit gibt es laut Bundesarbeitsministerium »lediglich Schätzungen«. Demnach waren in Deutschland Mitte 2018 schätzungsweise bis zu 542 000 Menschen wohnungslos. »Aktuellere Zahlen liegen für das Bundesgebiet nicht vor.« Auf die Frage, wie etwa Obdachlose besser gegen Corona geschützt werden können, nennt das Ministerium Impfungen. Schließlich sind sie laut Impfverordnung als Teil der Gruppe 2 priorisiert - sofern sie in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe »untergebracht oder tätig sind«.

»Das ist wichtig für die Gesundheit dieser Menschen, denn sie gehören aufgrund ihrer Lebensumstände zu den besonders gefährdeten Gruppen und haben deswegen eine hohe Priorität«, heißt es von Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Der 34-Jährige lebt derzeit in einer Einrichtung der Berliner Stadtmission. Gut die Hälfte der Bewohner dort hätten das Impfangebot sofort angenommen, sagt die Sprecherin der evangelischen Hilfsorganisation, Barbara Breuer.

Zunächst war die Impfkampagne zum Schutz von Obdachlosen nach Angaben des Berliner Senats wegen des Impfstopps mit dem Vakzin von Astrazeneca und der verzögerten Lieferung des Präparats von Johnson & Johnson ins Stocken geraten. Ende April seien dann in der Hauptstadt gut 3000 obdachlose Menschen in nur wenigen Tagen geimpft worden.

Nach anfänglichen Startschwierigkeiten nehmen dpa-Recherchen zufolge deutschlandweit Corona-Impfungen für Obdachlose an Fahrt auf. So sollen etwa mobile Impfteams in Bayern nach Angaben von Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) ab Mai auf der Straße lebende Menschen impfen. Mitte April hatte die Stadt Frankfurt mit der Immunisierung von Menschen begonnen, die in Gemeinschaftsunterkünften wohnen oder dort arbeiten.

Angaben von Städten und Landkreisen zufolge haben in Mecklenburg-Vorpommern bereits vielerorts obdach- und wohnungslose Menschen ihre erste Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Rund zehn Prozent der 60 000 Wohnungs- und Obdachlosen in Nordrhein-Westfalen empfingen nach Schätzungen der dortigen Freien Wohlfahrtspflege den Piks in den Oberarm.

4800 Dosen des Herstellers Johnson & Johnson plant der Freistaat Thüringen laut Gesundheitsministerium für die Wohnungs- und Obdachlosenhilfe ein. Auch Hamburg kündigte an, dieses Präparat zunächst vorrangig Obdachlosen anzubieten. Der Grund: Im Gegensatz zu den Impfstoffen von Biontech/Pfizer oder Moderna reicht eine einzige Spritze.

In der Lebensrealität vieler Obdachloser sei es schlicht »nicht immer möglich, in vier bis fünf Wochen einen zweiten Termin wahrzunehmen«, erklärt der Mainzer Arzt Gerhard Trabert. Dass gemäß Impfverordnung nur Obdachlose eine »hohe Priorität« genießen, wenn sie in einer Einrichtung »untergebracht oder tätig sind«, greift nach seiner Einschätzung zu kurz. Menschen, die etwa ausschließlich auf der Straße lebten, würden so zunächst außen vor gelassen.

»Auch wenn irgendwann die Impfpriorität aufgehoben wird, muss gewährleistet sein, dass es für wohnungslose und obdachlose Menschen weiterhin entsprechend niedrigschwellige Impfangebote gibt«, ergänzt der Präsident des Deutschen Sozialverbandes (Berlin), Adolf Bauer. Sofern nicht alle »besonders gefährdeten Personengruppen« ein Impfangebot erhalten hätten, sei die Diskussion um eine Aufhebung der Priorisierung ohnehin »verfrüht«.

Obdachlosenhilfe in Zeiten von Corona sei zu Beginn ein großes Experiment gewesen, sagt Stadtmissionssprecherin Breuer. In einem umfunktionierten Berliner Jugendgästehaus mit bunten gelben Fenstern bietet die Einrichtung Corona-positiven Obdachlosen und Verdachtsfällen eine warme Unterkunft. »Das Schlimmste was es gibt, ist auf der Straße Fieber zu haben«, berichtet Breuer. Zunächst habe man 16 Plätze zur Quarantäne angeboten - mittlerweile seien es gut 100. Etwa 40 Betten seien derzeit belegt.

Drei Quadratmeter sind keine Bleibe. Über Wohnboxen als Strategie gegen Wohnungslosigkeit wird gestritten

Trotz Corona habe er es geschafft, seine Heroinsucht in den Griff zu bekommen, sagt der 34-Jährige. »Hier habe ich richtig Hilfe bekommen.« Seit gut einem Jahr ist der gelernte Kfz-Mechaniker nach eigener Darstellung auf Jobsuche. Wegen der Pandemie gebe es aber weniger Vorstellungsgespräche - die Leute hätten Angst vor einer Ansteckung. dpa/nd

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