Leichen im Keller der Downing Street 10
Britischer Premier Boris Johnson wegen Vorwürfen zur Renovierung seiner Dienstwohnung unter Druck
Boris Johnson will weiter nicht damit herausrücken, wer die Rechnung für die Goldtapeten in seiner Londoner Dienstwohnung in der berühmten Downing Street zunächst bezahlt hat, die vom Premier und seiner Freundin Carrie Symonds bewohnt wird. Nach Medienberichten soll dafür Geld aus der Kasse seiner Konservativen Partei vorgeschossen worden sein. Ist Johnson ein unfair Gescholtener, wie er sich darstellt, oder einfach nur ein Premier mit dubioser Moral auch in Gelddingen? Die Frage dürfte sich zunächst auf das Urteil der Wähler auswirken. An diesem Donnerstag stehen Kommunal- und Regionalwahlen an, dazu die wichtige Parlamentswahl in Schottland. Außerdem wird die für die Überprüfung von Parteien- und Wahlkampffinanzierung zuständige Wahlkommission förmlich ermitteln. Im Auftrag von Johnson soll sein Kabinettsekretär Simon Case die Angelegenheit untersuchen und auch der von ihm nun zum Wahrer des Verhaltenskodex für Regierungsmitglieder ernannte Lord Christopher Geidt wird eine Bewertung vornehmen.
Die Affäre - die Renovierung der Wohnung soll 200 000 Pfund gekostet haben, während für ihren Erhalt jährlich nur 30 000 Pfund (umgerechnet 34 000 Euro) aus Steuermitteln zur Verfügung stehen - ist nur das neueste Glied in einer Kette von Skandalen um den Premierminister. Angefangen hatte es für Johnson und seine konservativen Tories noch einigermaßen beherrschbar. Als bei Angeboten zu Aufträgen für Corona-Schutzmittel und medizinische Geräte eine Expressroute für Freunde und Spender der Tories eingerichtet wurde, galt diese Bevorzugung vielen angesichts der Covid-Krise bestenfalls als Kavaliersdelikt. Das Publikum sah in der Korruption das kleinere Übel gegenüber Nichtstun, und verzieh Johnson - vorerst.
Auch eine weitere Skandalgeschichte schien Johnson nicht zu beschädigen. Sein Vorvorgänger als Premier, David Cameron, ebenfalls Zögling der Eliteschule Eton, hatte gehofft, mit Aktienoptionen des Finanzdienstleisters Greensill Capital mehr als 20 Millionen Pfund zu verdienen. Cameron intervenierte bei Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Matt Hancock, um der kränkelnden Firma zu Coronahilfen und Aufträgen zu verhelfen. Die Gesellschaft ging in diesem März dennoch Pleite. Was kümmerte die Lobbyaffäre Johnson, der Cameron noch nie gemocht hatte?
Da ist die »Leichenhaufengeschichte« schon von einem anderen Kaliber. Sie betrifft Johnson ganz direkt. Quelle des Zitats, das seit einer Woche Schlagzeilen macht, soll sein früherer Chefberater Dominic Cummings sein, der im vergangenen Herbst gehen musste. Während einer heftigen Debatte in der Downing Street soll der Premier im Oktober 2020 gesagt haben: »Bloß keinen neuen Lockdown - sollen sich doch die Leichen zu Tausenden türmen.« Nun ist Johnson sowohl für seine Abneigung gegenüber wirtschaftsschädigenden Lockdowns bekannt als auch für unbedachte, flapsige Sprüche berüchtigt. Inzwischen heißt es: Drei Quellen werfen Johnson vor, den Satz gesagt zu haben - was dieser vehement bestreitet. Kein Ohrenzeuge hat sich bislang geoutet, also ist Vorsicht am Platz. Gesichert ist hingegen, dass etwa 150 000 Briten an Covid gestorben sind, die meisten erst nach dem späten Dezember-Lockdown. Zu Johnsons Bilanz gehören sowohl viele Tote als auch die Schädigung der Wirtschaft. Was ihn bisher rettete, waren die Erfolge des schnellen Impfprogramms.
Erst die Affäre um neue Möbel und Tapeten für die Downing Street alarmiert nicht nur die Johnson-Gegner, sondern auch stockkonservative Blätter wie »Daily Mail« und »Telegraph«. Sein blamables Abschneiden bei einem Auftritt im Unterhaus gegen Labour-Chef Keir Starmer machte es nicht besser. Johnson weigerte sich zu sagen, wer die horrende erste Rechnung an den Inneneinrichter gezahlt hat. Immer zorniger schrie Johnson, er habe die Schlussrechnung bezahlt. Legte seine Partei das Geld aus, kam es von einem Spender, etwa dem Tory Lord David Brownlow? Wollte Johnson das Geld jemals zurückzahlen? Niemand weiß es.
Nach einer aktuellen Umfrage des »Observer« ist der Vorsprung der Tories auf die Konkurrenz in Britannien außer Nordirland von elf auf fünf Prozent geschrumpft.
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