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Einsam heilen
Bald beginnt das Eid-al-Fitr-Fest. Als wir Kinder waren, verglichen es unsere Eltern mit Weihnachten. Denn Weihnachten war nicht unser Fest, das wussten wir.
Die letzten Tage des Ramadan sind angebrochen, und in ungefähr einer Woche steht das dreitägige Eid al-Fitr, Bayram oder auch Zuckerfest genannt, an.
In vielen muslimischen Ländern oder Ländern mit großer muslimischer Bevölkerung ist Eid al-Fitr ein gesetzlicher Feiertag. In Ländern wie den USA oder in Großbritannien können muslimische Angestellte freinehmen, Schüler*innen vom Unterricht fernbleiben, und auch sonst ist das Verständnis für (religiöse) Feiertage von Menschen, die nicht der Dominanzgesellschaft angehören, ein anderes.
Als wir noch Kinder waren, verglichen unsere Eltern das Eid-Fest gerne mit Weihnachten. Es gab Familienessen, Geschenke für die Kinder, und wir mussten nicht in die Schule. Denn Weihnachten war nicht unser Fest. Das war uns bewusst.
Oft erinnere ich mich daran, wie ich in einer großen deutschen Versicherung von den Kolleg*innen gefragt wurde, ob ich es nicht auch unfair finden würde, dass »Muslime und Türken« an Weihnachten freihätten. »Wer nicht Weihnachten feiert, der soll an Weihnachten auch nicht freihaben.« Als wäre es das Normalste dieser Welt, so etwas zu fordern. Als könnten diese »Muslime und Türken« an ihren Feiertagen zu Hause bleiben. Bezahlt natürlich.
Nun kann man streiten, ob in modernen, progressiven und säkularen Demokratien überhaupt religiöse Feiertage ihre Berechtigung haben, aber dort sind wir noch lange nicht. Aber wenn mir die Covid-19-Pandemie eines gezeigt hat, dann dass mir das gemeinsame Feiern fehlt. Und welche Bedeutung diese Feste für uns als »Minderheit« in Deutschland hatten und haben. Dass Familie dann doch, so unangenehm sie auch sein kann, mir das Gefühl von Gemeinschaft und Wärme gibt, dass ich in Deutschland so vermisse. Dass die Rituale und Abläufe an diesen Tagen eigentlich Überlebensstrategien unserer Eltern und Großeltern sind.
Dies waren die Räume, in denen sie so sein konnten, wie sie wollen. Die Räume und Momente der Ausgelassenheit, Unbeschwertheit und der Freude. Der Freude darüber, nicht mehr auf der Flucht zu sein. Der Freude darüber, den Kindern eine sichere Zukunft ermöglichen zu können. Und ganz besonders der Freude über das gute Essen. Denn Eid bedeutet gemeinsam essen - immer wieder. Zusammen an einem Tisch.
Ein Gericht, das ich mit Eid verbinde und von dem südasiatische Muslime an Feiertagen nicht genug bekommen können, ist Sheer Khorma oder Seviyan/Savaiyyan - über die richtige Bezeichnung wird jedes Mal gestritten. Eine Art Vermicelli-Pudding. Viele kleine dünne Nudeln in Milch gekocht.
Mein Großvater pflegte immer zu sagen: »Dieses Gericht ist wie unsere Familie. Jede Nudel ist eine Person.« Ich würde gerne sagen, dass wir danach philosophische Gespräche über Identität, Solidarität und Zusammenhalt hatten, aber die hatten wir nicht. Er aß seine Seviyan und fing meistens eine seiner erfundenen Abenteuergeschichten an. Wir, seine Enkel*innen, kannten sie alle und wussten, dass er flunkerte, aber es war jedes Mal ein Spaß, ihm zuzuhören, wie er die Welt rettete.
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Bei aller Romantisierung von Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend hatte unsere Generation dabei auch viele Kämpfe auszutragen. Kämpfe um Anerkennung, Emanzipation, Freiheiten und Rechte. Während sich die einen von ihren Familien und Verwandten lösen, versuchen, patriarchalen Verhältnissen zu entkommen, Traumata zu verarbeiten und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, suchen andere Versöhnung und Nähe. Wiederum andere verpflichten sich, unermüdlich für uns alle zu kämpfen. Familien, Angehörige und Überlebende von rassistischer und antisemitischer Gewalt zum Beispiel.
Sie alle wollen nur eins: heilen. Und einsam heilen in einer Welt, die dir Rechte abspricht, dir Zugänge verwehrt oder über deinen Körper bestimmten will, ist immer noch verdammt schwer.
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