Die Beschäftigten wollen armutsfeste Löhne

Gewerkschaft Verdi geht mit Forderung nach einem tariflichen Mindestlohn von 12,50 Euro in Einzelhandel-Tarifgespräche

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom Klatschen ob ihrer Leistungen haben die Verkäufer*innen in Berlin und Brandenburg genug. »Die Kolleg*innen stehen nun schon seit weit mehr als einem Jahr Pandemie tagtäglich an der Kasse und im Lager ihre Frau und ihren Mann«, sagte Conny Weißbach, Leiterin und Verhandlungsführerin im Fachbereich Handel der Gewerkschaft Verdi in Berlin und Brandenburg. Die Beschäftigten brauchten »keine weiteren warmen Worte, sie brauchen eine spürbare tabellenwirksame Erhöhung«. Am Dienstag beschlossen die Tarifkommissionen deshalb ihre Forderungen: 4,5 Prozent plus 45 Euro verlangen die 215 000 Einzelhandel-Beschäftigten mehr an Gehalt. Mindestens 12,50 Euro sollen die Chef*innen künftig pro Stunde zahlen, wie es auch die anderen Verdi-Bezirke fordern.

Die Kolleg*innen in Berlin und Brandenburg sind nicht die einzigen Beschäftigten, die gerade um mehr Geld feilschen. Überall in der Bundesrepublik beginnen gerade die Tarifgespräche im Einzelhandel. Am Mittwoch verhandeln Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen. Am Montag gab es schon ein erstes Gespräch in Bayern. Das endete ergebnislos. Die Arbeitgeber mauern. »Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Pandemie gibt es für die meisten Geschäfte nichts zu verteilen«, lehnte die Verhandlungsführerin der Arbeitgeberseite, Melanie Eykmann, jegliches Entgegenkommen ab.

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So schlecht, wie es die Arbeitgeberseite behauptet, geht es der Branche nicht. Im Gegenteil: Auch wenn die Menschen in der Corona-Pandemie weitaus weniger Klamotten kaufen und viele Läden im Lockdown sind, konnte das Statistische Bundesamt am Montag einen Anstieg der Einzelhandelsumsätze im März im Vergleich zum Vorjahresmonat um preisbereinigte elf Prozent vermelden. Auch im Vergleich zum letzten Vorkrisenmonat Februar 2020 waren die Umsätze im März 2021 real um 4,4 Prozent höher. Dies lag nicht nur am boomenden Onlinehandel. Insbesondere der Lebensmitteleinzelhandel sowie die Baumärkte konnten ihre Umsätze steigern.

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Insgesamt arbeiten im Einzel- und Versandhandel rund 3,1 Millionen Menschen. Hinzu kommen rund zwei Millionen Beschäftigte im Großhandel. Zwei Drittel der Beschäftigten im Einzel- und Versandhandel sind Frauen. Die Mehrheit von ihnen arbeitet in Teilzeit. »Der Handel ist die größte von Altersarmut bedrohte Branche«, schreibt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf ihrer Internetseite.

So gehen die einzelnen Verdi-Tarifbezirke mit der Forderung eines Mindestverdiensts von 12,50 Euro in die Verhandlungen. »Wer ein Leben lang hart arbeitet, muss eine Rente über dem Grundsicherungsniveau erhalten«, heißt es seitens Verdi. Eine solche Rente bekomme aber nur, wer über 45 Jahre ein monatliches Entgelt von mindestens 2100 Euro brutto beziehe. Deshalb brauche es ein Mindeststundenentgelt von 12,50 Euro. Dabei entsprechen 12,50 Euro etwas mehr als 60 Prozent des mittleren Stundenlohns. Und dieser Wert ist auch wichtig, weil man bei Löhnen unter ihm von Armutslöhnen spricht. Was die Beschäftigten im Einzelhandel fordern, sind also in erster Linie armutsfeste Mindestlöhne.

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Doch dies auszuhandeln, wird für die Gewerkschaft keine einfache Aufgabe sein. Und zwar nicht nur, weil Teile des Einzelhandels nicht erst seit der Corona-Pandemie in der Krise stecken. Vor allem halten sich immer weniger Unternehmen an die ausgehandelten Tarifverträge. Nur noch auf jeden fünften Betrieb trifft das zu. Deswegen fordert Verdi vom Einzelhandelsverband HDE, dass man die Tarifverträge gemeinsam für allgemeinverbindlich erklärt. Dies würde bedeuten, dass alle Geschäfte den Tariflohn zahlen müssten. »Wir wollen den Wettbewerb im Einzelhandel zukünftig nur noch über bessere Geschäftsmodelle, Produkte und Service führen, nicht über die Einkommen der Beschäftigten«, so Gewerkschafterin Weißbach.

Da hilft es nicht, dass der Onlineriese Amazon, den Verdi schon seit Jahren regelmäßig wegen seiner schlechten Löhne und Arbeitsbedingungen bestreikt, vergangenes Jahr Mitglied des HDE wurde. Schließlich hält sich der Konzern nicht an den Einzelhandelstarif und hat so auf Kosten seiner Angestellten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den großen Einzelhandelsketten.

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