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Die Last der lärmenden Luftfracht

Anwohner des Flughafens Leipzig-Halle leiden unter nächtlichem Fluglärm. Ein Ausbau des Airports droht die Lage zu verschlimmern

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Vormittags ist die Einflugschneise des Flughafens Leipzig-Halle ein fast idyllischer Ort. Zwar kommt in Abständen das eine oder andere Flugzeug eingeschwebt. Zu hören ist davon westlich des Airports aber wenig. Das Geräusch der Turbinen wird vom Lärm der nahen, stark befahrenen Bundesstraße übertönt. Fast noch lauter scheint allerdings das aufgeregte Trällern der Feldlerchen, die hoch über dem blühenden Raps in der Luft stehen.

Das akustische Inferno beginnt erst in der Nacht. »22.35 Uhr wird der Himmel aufgeschlossen«, sagt Peter Richter. In kurzen Abständen kommen Flugzeuge an, »65 bis 70«, sagt Richter. Sie dröhnen über Häuser wie das hinweg, in dem er und seine Familie leben, und bringen Pakete und Paletten, Kartons und Kisten voll Luftfracht. Die wird am Flughafen entladen, sortiert, wieder eingeladen und einige Stunden nach Mitternacht in alle Welt weitertransportiert. »Wenn man Pech hat, hat sich der Wind in der Zwischenzeit gedreht«, sagt Richter. Dann fliegen die Maschinen noch einmal über sein Bett.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Der Flughafen Leipzig-Halle gehört zu den Orten, die tagsüber eine eher unscheinbare Existenz fristen, in der Nacht jedoch zum Leben erwachen. Im Jahr 2020 hatte er bis November 22 292 Starts und Landungen in den Tagstunden verbucht, aber 35 272 in der Nacht. Grund ist, dass der Flughafen eine Bedeutung vor allem als Güterumschlagplatz hat. 2008 verlagerte das Unternehmen DHL sein Frachtdrehkreuz für Europa aus Brüssel nach Leipzig. Seither hat es sich für die Posttochter zu deren weltweit größtem Umschlagplatz entwickelt. Auch der Internethändler Amazon betreibt hier sein regionales Luftfrachtzentrum für Europa. Leipzig sei, preist die Mitteldeutsche Flughafen AG (MDF) als Betreiber des Airports, zweitgrößter Umschlagplatz für Luftfracht in Deutschland und gehöre zu den »am dynamischsten wachsenden Cargo-Airports weltweit«.

Das ist gut für die Wirtschaft: Nach Angaben der MDF sorgt der Flughafen für 10 800 Arbeitsplätze, mehr als doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Für Anwohner und die Menschen, die in den verschiedenen An- und Abflugkorridoren wohnen - insgesamt immerhin 1,2 Millionen Menschen - ist die Entwicklung deutlich weniger erfreulich. »Wenn die Maschinen kommen, ist an Schlaf kaum noch zu denken«, sagt Peter Richter. Er hat sich angewöhnt, erst dann ins Bett zu gehen, wenn die letzte Maschine gelandet ist - oft nach Mitternacht. Der Taktplan der Fluggesellschaften diktiert seinen Lebensrhythmus. Zudem benutzt er professionelle Ohrstöpsel. Viele Anwohner in unmittelbarer Nähe des Airports haben von dessen Betreiber Schallschutzfenster bezahlt bekommen. Wie förderlich sich diese für den Nachtschlaf auswirken, ist umstritten. Im Fall von Richter wären sie wirkungslos. Sein Haus ist Baujahr 1903. Der Flughafen ging erst 1907 in Betrieb. Lärmschutz spielte beim Hausbau keine Rolle. Die Wände sind unten 36 und oben 24 Zentimeter dick: »Da geht der Lärm glatt durch, Schallschutzfenster hin oder her.«

Lärm ist keine bloße Unannehmlichkeit, sondern ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die Gesundheit. Er lässt den Adrenalinpegel steigen und treibt Puls und Blutdruck in die Höhe. Einst war das ein Leben rettender Mechanismus: Wenn es akustische Hinweise auf Gefahr gab, wurde bei unseren Vorfahren der Fluchtinstinkt geweckt. Heute ist die evolutionär verankerte Reaktion auf Lärm zu einer Gefahr für Gesundheit und Leben geworden. Sie bewirkt Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Herzinfarkte mit Todesfolge, bei Kindern auch kognitive Entwicklungsstörungen. Umgebungslärm sorge laut Weltgesundheitsorganisation WHO allein in Westeuropa für den Verlust von 903 000 gesunden Lebensjahren aufgrund von Schlafstörungen, sagt der Mainzer Kardiologe Thomas Münzel. Er verweist auch auf Schätzungen der Europäischen Umweltagentur, wonach Lärm für 1,7 Millionen Fälle von Bluthochdruck verantwortlich sei. Nachtfluglärm, fügt der Mediziner an, wirke sich dabei »besonders schädlich auf die Gesundheit aus« - weil er Ruhephasen stört, die der Körper zur Regeneration dringend braucht.

Münzel trifft die Aussagen in einem Gutachten, das die Grünen im sächsischen Landtag in Auftrag gegeben haben und das in einer brisanten Forderung gipfelt: nach einer »gesetzlich festgelegten Nachtruhe von 22 bis 6 Uhr« am Flughafen Leipzig-Halle. Eine solche nächtliche Lärmpause gibt es an vielen großen Airports. In Frankfurt (Main) muss laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2012 zwischen 23 und 5 Uhr Ruhe herrschen. In Leipzig-Halle suchten Anwohner eine ähnliche Regelung durchzusetzen. Peter Richter ist Sprecher einer Bürgerinitiative, die »IG Nachtflugverbot« heißt. Er und viele andere wehrten sich gegen eine von den Behörden erlassene Rund-um-die-Uhr-Fluggenehmigung für Leipzig-Halle, die freilich von höchsten Gerichten immer wieder bestätigt wurde. 2006 fällte das Bundesverwaltungsgericht ein erstes Urteil zum Planungsbeschluss für den Flughafenausbau von 2004, der daraufhin 2007 geändert wurde. Es folgten weitere Klagen: am Bundesverwaltungs- und am Bundesverfassungsgericht sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH). Sie blieben ohne Erfolg. Der Flughafen Leipzig-Halle, sagen Kritiker, ist heute die »lauteste stadtnahe nächtliche Lärmquelle Deutschlands«.

Künftig dürfte es noch schlimmer werden. Derzeit läuft das Planfeststellungsverfahren für einen deutlichen Ausbau des Flughafens: Erweiterung des Rollfelds der Startbahn Süd um 66 Hektar, Anlagen zur Flugzeugenteisung, Schneedeponie. Vor allem soll die Anzahl der Stellplätze für Frachtflieger deutlich wachsen: von 60 auf 96. Das dürfte einen enormen Anstieg der Flugbewegungen nach sich ziehen. Der von Bürgerinitiativen herausgegebene »Fluglärmreport LEJ« zeichnet ein »Horrorszenario«, wonach die Zahl nächtlicher Starts und Landungen auf 57 900 im Jahr 2032 ansteigen könnte - ein Plus von 66 Prozent gegenüber 2018. Die Flugzeuge, sagt Peter Richter, würden dann »fast Stoßstange an Stoßstange hier ankommen«.

Der Bedarf dafür ist zumindest bei Logistikkonzernen und Industrie vorhanden. Das Frachtaufkommen wächst stetig und hat am Flughafen Leipzig-Halle im Coronajahr 2020 mit 1,38 Millionen Tonnen ein nie da gewesenes Volumen erreicht. Im ersten Quartal 2021 lag man weiter auf Rekordkurs: Fast 360 000 Tonnen bedeuteten ein Plus von über 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Anwohner dagegen fürchten eine weitere dramatische Zunahme von Lärm- und anderen Emissionen. Zwar wiegelt der Flughafen ab. Eine Erhöhung des Schallpegels um mehr als zwei Dezibel betreffe »lediglich das direkte Umfeld der geplanten Vorfelderweiterung«, in dem es keine Wohnbebauung gebe, heißt es in den Planungsunterlagen, die im November und Dezember öffentlich ausgelegt wurden. Es werde »keine als wesentlich einzustufende Erhöhung der Fluglärmbelastung« geben, konstatiert das beauftragte Planungsbüro. Viele Kritiker schenken solchen Prognosen aber keinen Glauben mehr. Zu oft erwiesen sich Vorhersagen, auf die sich Baumaßnahmen stützten, als zu optimistisch. Die Geschichte des Flughafenausbaus, heißt es im »Fluglärmreport«, sei eine »Geschichte von Lügen, Halbwahrheiten und Versprechungen von Politik und Verwaltung gegenüber den Bürgern«.

Weil das offenbar viele so empfinden, gibt es derzeit viel Zuspruch für eine Petition, die einen Ausbaustopp für Leipzig-Halle fordert. »Ich rechne täglich mit der 10 000. Unterschrift«, sagt Richter. Zu den Planungsunterlagen gab es 4400 Einwände von 5500 Personen - und das, obwohl das Verfahren wegen Corona unter erschwerten Bedingungen stattfand, Informationsveranstaltungen ausfielen und die Betroffenen sich durch die 1000 Aktenseiten am heimischen Rechner quälen mussten. Die Linke im Landtag hatte gefordert, das Verfahren zu unterbrechen, weil Unterlagen »vielerorts nicht ordentlich einsehbar« gewesen seien. Für das Moratorium fand sich aber keine Mehrheit. Bemerkenswert ist, dass es Gegenwind nicht nur von Bürgern, sondern auch aus faktisch allen Anrainerkommunen gibt. Die Stadt Leipzigerklärt in einer Stellungnahme, die Planungen seien »derzeit nicht zustimmungsfähig«, weil wichtige Untersuchungen etwa zu Flug- und Bodenlärm sowie Umweltverträglichkeit fehlten. Man erachte es als »sinnvoll, das Beteiligungsverfahren (...) zu wiederholen«.

Wie stark sich der Widerstand auf die Pläne zum Flughafenausbau auswirken wird, ist offen. Eine Abschaffung der Nachtflüge steht nicht mehr zur Debatte, sagt Richter - auch wenn seine Bürgerinitiative diese Forderung weiter im Namen trägt. »Ein Nachtflugverbot hätte zur Folge, dass DHL woanders hinzieht, dort den gleichen Lärm erzeugt, aber hier die Jobs wegfallen«, sagt Richter. Prinzipiell kritisiert er ein Wirtschaftssystem, das Unmengen an Waren weltweit bewegt, ohne dabei Rücksicht auf Umwelt, Ressourcen und Menschen zu nehmen. Weil sich daran aber so schnell nichts ändern werde, sei die »maximale Hoffnung«, dass strenge Auflagen einen »echten Lärmschutz« bewirken.

Hebel gäbe es einige, zum Beispiel Landegebühren, die sich deutlich stärker an den Lärmemissionen der Flugzeuge orientieren, sagt Marco Böhme, Leipziger Abgeordneter der Linken und Verkehrsexperte im Landtag. Nicht nur der Fluglärmreport kritisiert »extrem laute DHL-Frachtbomber«. Diese zahlten in Leipzig nur einen Bruchteil der Gebühren, die etwa in Frankfurt (Main) anfielen, sagt Böhme. Über finanzielle Hebel ließe sich der Druck erhöhen, leisere Maschinen einzusetzen - und die Einnahmesituation des Flughafens verbessern. Er verzeichnet jährliche Verluste in zweistelliger Millionenhöhe. 2019 lag das Minus bei 18,7 Millionen Euro. Das Defizit tragen die Eigentümer. Gut 77 Prozent gehören dem Freistaat Sachsen.

Bis die Betreiber lärmender Flugzeuge in Leipzig tatsächlich stärker zur Kasse gebeten werden, dürfte es dauern. Derzeit werde ein neues Entgeltsystem erarbeitet, erklärte Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) auf Anfrage Böhmes; die Vorlage bei der Genehmigungsbehörde »gilt es abzuwarten«. Gleiches trifft auf eine Untersuchung zu »lärmarmen An- und Abflugverfahren« zu, die im Juni vorliegen soll. Kürzlich stellte die Koalition 100 000 Euro für den neuen Posten eines »Fluglärmschutzbeauftragten« in den Landesetat ein. Mit all diesen Maßnahmen will man dem Koalitionsvertrag gerecht werden. Dort nahmen sich CDU, SPD und Grüne vor, »die Bemühungen zur Reduktion von CO2-Emissionen und Lärmemissionen« am Flughafen Leipzig-Halle zu verstärken.

In welchem Maße das gelingt, bleibt offen. Mit Wolfram Günther ist der Mann, der einst die Klage fluglärmgeplagter Anwohner als Anwalt vor dem EuGH vertrat, heute Umweltminister in Dresden. Richter merkt indes diplomatisch an, die grüne Regierungsbeteiligung habe die Situation noch nicht grundlegend gebessert: »Wir merken davon noch nicht viel.« Der Lärmbeauftragte wird nicht im Umwelt-, sondern im Wirtschaftsministerium angesiedelt. Als die Grünenfraktion ihre Fluglärmstudie vorstellte, sagte Gutachter Münzel, er empfehle »keinen weiteren Ausbau des Flughafens«. Der Leipziger Abgeordnete Daniel Gerber formulierte vorsichtiger, man stehe diesem »sehr kritisch gegenüber«. Sein für Verkehr zuständiger Fraktionskollege Gerhard Liebscher forderte Zugeständnisse vom Flughafen: Dieser »wird und kann nicht gegen eine gesamte Region agieren«.

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