Checkliste Judenhass

Antisemitismus definieren? Keine einfache Aufgabe, zudem bringt es weder wissenschaftlich noch politisch befriedigende Ergebnisse. Kritik einer internationalen Debatte

  • Manuel Disegni
  • Lesedauer: 8 Min.

Antisemitismus, was ist das? Keine einfache Frage. Die Sache ist viel älter als der sie bezeichnende Begriff. Dieser wurde erst im späten 19. Jahrhundert von dem deutschen und anarchistischen Antisemiten Wilhelm Marr geprägt. Wie erklärt sich dieser kuriose Fall einer Wortneuschöpfung - eingeführt, um etwas zu benennen, das man doch schon seit »Urzeiten« kennt? Das ist eben nicht leicht zu beantworten.

Das zu Definierende hat sich im Laufe der Zeit in vielen verschiedenen sozialen und geistigen Kontexten manifestiert; es hat ein so vielfältiges und fantasievolles Repertoire an Legenden, Aberglauben und Verleumdungen entwickelt, so viele verschiedene Formen, Methoden, Motive, Ideologien, politische Ausrichtungen und sogar Namen angenommen; es hat sich als so dynamisch und anpassungsfähig erwiesen, dass es den Eindruck erweckt, es sei kaum zu definieren. Wovon ist also heute die Rede, wenn wir in Anlehnung an das Vokabular des modernen Antisemitismus von »Antisemitismus« sprechen? Eine breit angelegte internationale Debatte möchte dieser Frage auf den Grund gehen.

Aktuell werden in der politischen, akademischen und journalistischen Welt verschiedene Definitionsvorschläge diskutiert, um ein für alle Mal zu entscheiden, wer oder was antisemitisch ist und wer oder was nicht. Um Antisemitismus effektiv zu bekämpfen, wird nicht zu Unrecht gesagt, müsse man zunächst einmal klären, was das sei. Aber bevor man versucht, ihn zu definieren, könnte man sich fragen, ob Definitionen überhaupt - statisch, starr und eindeutig, wie sie von Natur aus sind - das angemessene gedankliche Werkzeug darstellen, um ein so veränderliches, mehrdeutiges und schwer fassbares Phänomen zu beschreiben.

IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus

Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die wichtigste zwischenstaatliche Organisation zur Förderung des Gedenkens und der Erforschung der Shoah, hat sich mit solchen Bedenken nicht aufgehalten. Im Jahr 2016 hat ihre Vollversammlung folgende Definition verabschiedet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass auf Juden äußern kann.« Die Autoren qualifizieren ihre Deutung als »Arbeitsdefinition« und als »nicht rechtsverbindlich«. Ersteres versteht sich von selbst: Im Kampf gegen den Antisemitismus haben Leute mit pragmatischer Arbeitsmentalität keine Zeit für abstrakte definitionstheoretische Grübeleien. Weniger klar jedoch ist auf den ersten Blick die Bedeutung des zweiten Prädikats: »nicht rechtsverbindlich«. Muss das angegeben werden? Das IHRA-Plenum ist doch kein gewähltes Parlament mit legislativen Befugnissen. Und weiter: Kann etwa Rechtsprechung auf der Basis von »bestimmten Wahrnehmungen« erfolgen?

Inzwischen ist die Definition aber durchaus rechtsverbindlich: Sie wurde von den Vereinten Nationen und den höchsten Institutionen der Europäischen Union öffentlich anerkannt, von zahlreichen Nationalstaaten (bisher 29) übernommen und fließt aktiv in deren Gesetzgebung ein. Zum Beispiel drohte die britische Regierung Ende vergangenen Jahres jeder Universität im Königreich, die sich nicht offiziell zu der von dieser Arbeitsdefinition ausgedrückten Auffassung von Antisemitismus bekennt, mit Sanktionen und Mittelkürzungen.

Das Dokument will Gesetzgebern, Forschern, Pädagogen, generell allen privaten und institutionellen Akteuren, die an der Bekämpfung von Antisemitismus beteiligt sind, ein Hilfsmittel zur Orientierung in der vielfältigen dunklen Landschaft des Judenhasses geben. Da jedoch die gebotene Orientierung nicht so genau ist - »eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Judenhass äußern kann« -, haben die Autoren elf Beispiele hinzugefügt, die zur Präzisierung und Konkretisierung dienen sollen. Es stellt sich heraus, dass dies Verhaltensweisen sind, die als antisemitisch eingestuft werden können: die Beschwörung des Massakers an den Juden, die Propagierung des Mythos der jüdischen Weltverschwörung, die Inkriminierung des gesamten jüdischen Volkes, die Leugnung der Shoah. So weit keine großen oder neuen Entdeckungen.

Weniger naheliegend ist, dass alle anderen angeführten Beispiele für offenen Antisemitismus (sieben der insgesamt elf) Israel betreffen, das Ziel antisemitischer Angriffe sein könne, indem es »als jüdisches Kollektiv verstanden wird«. So sei es zum Beispiel antisemitisch, Israel einen rassistischen Staat zu nennen, und es sei auch antisemitisch, mit zweierlei Maß zu messen, etwa vom jüdischen Staat höhere demokratische Standards zu verlangen als von anderen Ländern.

In der aktuellen Debatte geht die IHRA-Definition als rechte oder konservative Auslegung durch. Laut ihren Kritikern ist sie zu sehr auf den israelbezogenen Antisemitismus ausgerichtet. Eine solche Überbetonung würde zu einer reduktionistischen Auffassung des Phänomens führen. Der einseitige Fokus auf den sogenannten linken, propalästinensischen oder antizionistischen Antisemitismus würde dessen rechte, antiliberale oder faschistische Variante vernachlässigen oder gar verharmlosen. Darüber hinaus - und hier liegt der eigentliche Zankapfel - würde die IHRA-Arbeitsdefinition des Antisemitismus die Freiheit der Forschung und der Meinungsäußerung rund um die Themen des Nahost-Konflikts einschränken und gefährden.

Nexus und Jerusalem Declaration

Mit der Frage des Zusammenhangs zwischen Antisemitismus, Israel und Zionismus befasst sich eine andere Erklärung - The Nexus Document -, das von einer Taskforce der University of Southern California erstellt und im März veröffentlicht wurde. Laut diesem Definitionsversuch bestehe Antisemitismus in »antijüdischen Überzeugungen, Einstellungen, Handlungen oder systemischen Bedingungen«. Die kalifornischen Definierer teilen die implizite Prämisse der IHRA - die zentrale Stellung des Antizionismus - und machen sie explizit. »Für Juden und ihre Verbündeten«, schreiben sie, »ist es wichtig zu verstehen, was in Bezug auf Israel antisemitisch ist und was nicht«. Sie bieten dann ebenfalls Beispiele an, die jedoch in zwei Gruppen unterteilt sind: »Antisemitic? Yes or no.« Es sei antisemitisch, Juden als kollektiv verantwortlich für Israels Handeln darzustellen, ihnen als Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen und so weiter. Es sei nicht antisemitisch, sich gegen die israelische Politik zu stellen, und auch nicht, die zionistische Idee überhaupt abzulehnen.

Seit Ende März kursiert nun zudem eine dritte Definition, die im offenen Gegensatz zu jener der IHRA steht und liberaler oder »linker« sein möchte. Sie wurde von einer Gruppe von Akademikern unter der Schirmherrschaft des Van Leer Jerusalem Institute für Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt und heißt deswegen Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA; siehe auch »Definitiv eine Definition« von Gerhard Hanloser in »nd.Der Tag« vom 29. März). Diese Erklärung definiert den Antisemitismus als »Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als jüdisch)«. Aber die Kontroverse dreht sich in Wirklichkeit nicht so sehr um die Definition selbst als vielmehr um die Beispiele, die sie ergänzen sollen. Anliegen der Jerusalemer Gelehrten sei es, »einen Raum für eine offene Debatte über die verzwickte Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu sichern«.

Streitpunkt Nahost-Konflikt

Nicht zu Unrecht betont die IHRA, dass Israel ein privilegiertes Ziel des zeitgenössischen Antisemitismus darstellt und dass es nicht selten vorkommt, dass eine politische Israel-Kritik von hintergründigen antijüdischen Absichten beseelt ist. Es ist aber ebenso wenig zu leugnen, dass ihre Arbeitsdefinition zu einem politischen Werkzeug gemacht wurde, das von der israelischen Diplomatie, von konservativ geleiteten jüdischen Institutionen und von rechtszionistischen und anti-islamischen Stimmen gehandhabt wird, um eine ideologische Gleichsetzung von Israel-Kritik und Antisemitismus zu erzwingen.

So ist auch die JDA-Definition mit Beispielen dazu versehen, was in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt antisemitisch sei und was nicht. »An und für sich«, argumentiert die Erklärung - ohne müde zu werden, diese logisch-metaphysische Formel zu wiederholen -, sei es nicht antisemitisch, Israels Politik mit Südafrikas Apartheid zu vergleichen, zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen aufzurufen, mit zweierlei Maß zu messen oder irrationale, unverhältnismäßige und abgründige Kritik zu üben. Das aber ist geradezu redundant: »An und für sich« ist es auch nicht antisemitisch, sich ein Hakenkreuz auf die Brust zu tätowieren. Man könnte wohl ein tibetischer Einsiedler sein, der weder von Juden noch von Nazis je etwas gehört hat. Nur stehen die Dinge generell leider nicht »an und für sich« im platonischen Ideenhimmel oder auf den Gipfeln des Himalayas, sondern stets in einem Zusammenhang historisch konkreter Verhältnisse.

Die ganze Kontroverse läuft auf folgende Frage hinaus: Ist es Israels politische Rechte, die den Antisemitismusvorwurf instrumentalisiert, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die ihre Missetaten kritisieren - oder sind es die Antisemiten, die politische Kritik an Israel ausnutzen, um ihren Hass gegen Juden zu verbreiten? Keine der streitenden Parteien scheint die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass beides der Fall ist.

Der Definitionsstreit möchte auf dem schmalen Grat zwischen Politik und Wissenschaft balancieren. Am Ende scheitert es an beiden Fronten. Wenn es das Ziel ist, Antisemitismus zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis zu machen, wird das Ersetzen von Begriffsarbeit und historischer Forschung durch definitorische Willkür keine befriedigenden Ergebnisse bringen. Will man hingegen dieses Phänomen auf politischer Ebene wirksam bekämpfen, so reicht es nicht, einen allgemeinen und abstrakten Antisemitismus-Begriff zu erarbeiten, um möglichst viele Einzelfälle darunter zu subsumieren, sie zu denunzieren und juristisch zu verfolgen, als ob Antisemitismus ein individueller Makel wäre und nicht ein historisches Problem, das in die Struktur unseres kollektiven Lebens eingeschrieben ist. Stattdessen müsste man radikaler vorgehen und das Problem an seiner Wurzel packen. Man müsste die sozialen Tendenzen und psychologischen Mechanismen aufdecken, die viele, ja vielleicht sogar die Mehrheit der Menschen zu der Illusion verführen, sie würden glücklicher sein in einer Welt ohne Juden.

Manuel Disegni ist Philosoph und hat zu »Karl Marx und der moderne Antisemitismus. Kritik der Philosophie, der Ökonomie und der Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft« promoviert.

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